URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
17. März 1998 (1)
„Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen
Verträgen Bürgschaft“
In der Rechtssache C-45/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom
Bundesgerichtshof in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Bayerische Hypotheken- und Wechselbank AG
gegen
Edgar Dietzinger
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Richtlinie
85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz
im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (ABl. L 372,
S. 31)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer M. Wathelet in
Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der
Richter J. C. Moitinho de Almeida, D. A. O. Edward, P. Jann und L. Sevón
(Berichterstatter),
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
des Herrn Dietzinger, vertreten durch Rechtsanwalt Eberhard Bubb,
Landshut,
der deutschen Regierung, vertreten durch Regierungsdirektor
Alfred Dittrich, Bundesministerium der Justiz, und Oberregierungsrat
Bernd Kloke, Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte,
der belgischen Regierung, vertreten durch Jan Devadder, Hauptberater im
Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel und
Entwicklungszusammenarbeit, als Bevollmächtigten,
der französischen Regierung, vertreten durch Catherine de Salins,
Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für
Auswärtige Angelegenheiten, und Régine Loosli-Surrans, Chargé de mission
in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
der finnischen Regierung, vertreten durch Tuula Pynnä, Rechtsberaterin im
Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigte,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Carmel
O'Reilly und Ulrich Wölker, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen des Herrn Dietzinger, der deutschen
Regierung, der französischen Regierung, der finnischen Regierung und der
Kommission in der Sitzung vom 22. Januar 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. März
1997,
folgendes
Urteil
- 1.
- Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluß vom 11. Januar 1996, beim Gerichtshof
eingegangen am 15. Februar 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach
der Auslegung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985
betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen
geschlossenen Verträgen (ABl. L 372, S. 31) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Bayerischen Hypotheken-
und Wechselbank AG (im folgenden: Klägerin) und dem Beklagten Edgar
Dietzinger über die Inanspruchnahme aus einem von diesem mit der Klägerin
geschlossenen Bürgschaftsvertrag.
- 3.
- Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 85/577 bestimmt:
„Diese Richtlinie gilt für Verträge, die zwischen einem Gewerbetreibenden, der
Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher geschlossen
werden:
während eines vom Gewerbetreibenden außerhalb von dessen
Geschäftsräumen organisierten Ausflugs, oder
anläßlich eines Besuchs des Gewerbetreibenden
i) beim Verbraucher in seiner oder in der Wohnung eines anderen
Verbrauchers,
ii) beim Verbraucher an seinem Arbeitsplatz,
sofern der Besuch nicht auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers
erfolgt.“
- 4.
- Artikel 2 lautet:
„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet
.Verbraucher' eine natürliche Person, die bei den von dieser Richtlinie
erfaßten Geschäften zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer beruflichen
oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann.
.Gewerbetreibender' eine natürliche oder juristische Person, die beim
Abschluß des betreffenden Geschäfts im Rahmen ihrer gewerblichen oder
beruflichen Tätigkeit handelt, sowie eine Person, die im Namen und für
Rechnung eines Gewerbetreibenden handelt.“
- 5.
- Nach Artikel 4 der Richtlinie 85/577 hat der Gewerbetreibende den Verbraucher
innerhalb einer bestimmten Frist schriftlich über sein Widerrufsrecht zu belehren.
Gemäß Artikel 5 beträgt diese Frist mindestens sieben Tage ab dem Zeitpunkt, zu
dem dem Verbraucher die Belehrung über sein Recht, vom Vertrag zurückzutreten,
erteilt wurde.
- 6.
- Der Vater des Beklagten betrieb ein Bauunternehmen, für das die Klägerin u. a.
einen Kontokorrentkredit eingeräumt hatte. Durch schriftliche Erklärung vom 11.
September 1992 übernahm der Beklagte die selbstschuldnerische Bürgschaft für die
Verbindlichkeiten seiner Eltern gegenüber der Klägerin bis zum Höchstbetrag von
100 000 DM.
- 7.
- Zum Abschluß des Bürgschaftsvertrags kam es im Hause der Eltern des Beklagten,
die ein Angestellter der Klägerin nach telefonischer Absprache mit der Mutter des
Beklagten aufgesucht hatte. Über ein Widerrufsrecht wurde der Beklagte nicht
belehrt.
- 8.
- Im Mai 1993 kündigte die Klägerin alle den Eltern des Beklagten eingeräumten
Kredite, die sich damals insgesamt auf mehr als 1,6 Mio. DM beliefen, mit
sofortiger Wirkung. Außerdem nahm sie den Beklagten auf Zahlung eines
Teilbetrags von 50 000 DM aus der Bürgschaft in Anspruch. Dieser widerrief die
Bürgschaftserklärung mit der Begründung, er sei entgegen den Bestimmungen des
Gesetzes über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften vom
16. Januar 1986 (HWiG; BGBl. I S. 122), mit dem die Richtlinie 85/577 in
deutsches Recht umgesetzt wurde, nicht über sein Widerrufsrecht belehrt worden.
- 9.
- Das Landgericht gab der Klage statt. Auf die Berufung des Beklagten hat das
Oberlandesgericht die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben.
- 10.
- Der mit der Revision befaßte Bundesgerichtshof geht davon aus, daß für die
Entscheidung des Rechtsstreits eine Auslegung der Richtlinie 85/577 erforderlich
sei; er hat dem Gerichtshof daher folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Gehört der Bürgschaftsvertrag deutschen Rechts, der zwischen einem Kreditinstitut
und einer hierbei nicht im Rahmen einer selbständigen Erwerbstätigkeit
handelnden natürlichen Person geschlossen und durch den eine Kreditforderung
des Kreditinstituts gegen einen Dritten abgesichert wird, zu den „Verträgen, die
zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen
erbringt, und einem Verbraucher geschlossen werden“ (Artikel 1 Absatz 1 der
Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 20. Dezember 1985
betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen
geschlossenen Verträgen, 85/577/EWG, ABl. L 372, S. 31, vom 31. Dezember
1985)?
- 11.
- Die Frage des Bundesgerichtshofs geht dahin, ob ein Bürgschaftsvertrag, der von
einer nicht im Rahmen einer Erwerbstätigkeit handelnden natürlichen Person
geschlossen wird, in den Geltungsbereich der Richtlinie 85/577 fällt.
- 12.
- Der Beklagte und die Kommission vertreten die Ansicht, die Richtlinie 85/577 gelte
für den Bürgschaftsvertrag; sie solle Verbraucher schützen, die als Haustürgeschäft
einen Vertrag schlössen, auf den sie sich nicht hätten vorbereiten können. Ebenso
wie ein Käufer übernehme der Bürge Leistungsverpflichtungen, und er sei um so
schutzbedürftiger, als er hierfür keine Gegenleistung erhalte.
- 13.
- Nach Auffassung der Kommission gilt Artikel 1 der Richtlinie 85/577 für jeden
Vertrag zwischen einer natürlichen Person und einem Gewerbetreibenden, der im
Rahmen seiner beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit für gewöhnlich
Verbrauchern Waren liefere oder Dienstleistungen erbringe, auch wenn der
fragliche Vertrag keine solche Leistung vorsehe. Der Ausdruck „Verträge, die
zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen
erbringt, und einem Verbraucher geschlossen werden“ sei in der Richtlinie nur
verwendet worden, damit diese sich nicht allein auf Waren liefernde
Gewerbetreibende beschränke.
- 14.
- Die deutsche, die belgische, die französische und die finnische Regierung sind
dagegen der Ansicht, daß der Bürgschaftsvertrag im wesentlichen deshalb nicht in
den Geltungsbereich der Richtlinie 85/577 falle, weil er kein Vertrag sei, der im
Sinne von Artikel 1 „zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder
Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher geschlossen wird“.
- 15.
- Dieser Passus setze voraus, daß der Gewerbetreibende dem Verbraucher, der sich
auf die Richtlinie 85/577 berufe, eine Ware liefere oder eine Dienstleistung
erbringe; es reiche nicht aus, daß der Gewerbetreibende für gewöhnlich Waren
verkaufe oder Dienstleistungen erbringe. Das ergebe sich besonders klar aus der
englischen Fassung („to contracts under which a trader supplies goods or services
to a consumer“). In einem Fall wie dem vorliegenden stehe der vom Bürgen
eingegangenen Verpflichtung keine Gegenleistung gegenüber, da der Bürge von
dem Gewerbetreibenden als Gläubiger weder Waren noch Dienstleistungen erhalte.
- 16.
- Außerdem sei die Frage der Sicherheiten in der Richtlinie 85/577 nicht geregelt;
andernfalls hätte die Richtlinie eigene Bestimmungen u. a. darüber enthalten, was
mit dem Vertrag, für dessen Erfüllung der Bürge einstehe, geschehe, wenn der
Bürge von seinem Widerrufsrecht Gebrauch mache. Daher richte sich der Schutz
des Bürgen allein nach nationalem Recht. Die französische Regierung trägt
insbesondere vor, da die Richtlinie 85/577 die Auswirkungen einer Ungültigkeit des
Bürgschaftsvertrags auf die Hauptverpflichtung nicht regele, müsse die Bürgschaft
angesichts ihres akzessorischen Charakters vom Geltungsbereich der Richtlinie
ausgeschlossen sein.
- 17.
- Die Richtlinie 85/577 gilt gemäß ihrem Artikel 1 für „Verträge, die zwischen einem
Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem
Verbraucher“ außerhalb der Geschäftsräume des Gewerbetreibenden „geschlossen
werden“, sofern sich der Gewerbetreibende nicht auf ausdrücklichen Wunsch des
Verbrauchers im Hinblick auf den Vertragsschluß an den betreffenden Ort begeben
hat.
- 18.
- Für die Frage, ob ein Bürgschaftsvertrag zur Absicherung der Erfüllung eines
Kreditvertrags durch den Hauptschuldner unter die Richtlinie 85/577 fallen kann,
ist von Belang, daß der Geltungsbereich der Richtlinie, von den Ausnahmen in
Artikel 3 Absatz 2 abgesehen, nicht nach der Art der Waren oder Dienstleistungen
beschränkt ist, die Gegenstand des Vertrages sind, sofern diese Waren oder
Dienstleistungen zum privaten Verbrauch bestimmt sind. Die Gewährung eines
Kredits stellt eine Dienstleistung dar; der Bürgschaftsvertrag ist nur akzessorisch
und in der Praxis sehr oft Voraussetzung des Hauptvertrags.
- 19.
- Überdies findet sich im Wortlaut der Richtlinie kein Hinweis darauf, daß derjenige,
der den Vertrag geschlossen hat, aufgrund dessen Waren zu liefern oder
Dienstleistungen zu erbringen sind, der Empfänger dieser Waren oder
Dienstleistungen sein müßte. Die Richtlinie 85/577 soll nämlich die Verbraucher
schützen, indem sie es ihnen ermöglicht, einen Vertrag zu widerrufen, der nicht auf
Initiative des Kunden, sondern auf die des Gewerbetreibenden geschlossen wurde,
so daß der Kunde möglicherweise nicht alle Folgen seines Handelns überblicken
konnte. Daher kann ein Vertrag, der einem Dritten zugute kommt, nicht allein
deshalb vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen werden, weil die
erworbenen Waren oder Dienstleistungen für diesen Dritten bestimmt sind, der
nicht Partei des betreffenden Vertragsverhältnisses ist.
- 20.
- Zwischen dem Kreditvertrag und der seine Erfüllung absichernden Bürgschaft
besteht ein enger Zusammenhang, wobei derjenige, der sich verpflichtet, für die
Rückzahlung einer Schuld einzustehen, Selbstschuldner oder Ausfallbürge sein
kann. Daher kann die Bürgschaft grundsätzlich unter die Richtlinie fallen.
- 21.
- Außerdem ist ein Wegfall einer Bürgschaft, die im Rahmen eines Haustürgeschäfts
im Sinne der Richtlinie 85/577 vereinbart wurde, nur einer der Fälle, für die sich
die Frage der Auswirkung der etwaigen Ungültigkeit eines akzessorischen Vertragesauf die Hauptverbindlichkeit stellt. Daher kann allein aus dem Umstand, daß die
Richtlinie nicht regelt, was mit dem Hauptvertrag geschieht, wenn der Bürge gemäß
Artikel 5 widerruft, nicht geschlossen werden, daß die Richtlinie für Bürgschaften
nicht gilt.
- 22.
- Aus dem Wortlaut von Artikel 1 der Richtlinie und dem akzessorischen Charakter
der Bürgschaft folgt jedoch, daß unter die Richtlinie nur eine Bürgschaft für eine
Verbindlichkeit fallen kann, die ein Verbraucher im Rahmen eines
Haustürgeschäfts gegenüber einem Gewerbetreibenden als Gegenleistung für
Waren oder Dienstleistungen eingegangen ist. Da die Richtlinie außerdem nur die
Verbraucher schützen soll, kann sie nur einen Bürgen erfassen, der sich gemäß
Artikel 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie zu einem Zweck verpflichtet hat, der
nicht seiner beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann.
- 23.
- Daher ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, daß nach Artikel 2 erster
Gedankenstrich der Richtlinie 85/577 ein Bürgschaftsvertrag, der von einer nicht
im Rahmen einer Erwerbstätigkeit handelnden natürlichen Person geschlossen wird,
nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt, wenn er die Rückzahlung einer
Schuld absichert, die der Hauptschuldner im Rahmen seiner Erwerbstätigkeit
eingegangen ist.
Kosten
- 24.
- Die Auslagen der deutschen, der belgischen, der französischen und der finnischen
Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die
Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei
dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist
daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Bundesgerichtshof mit Beschluß vom 11. Januar 1996 vorgelegte
Frage für Recht erkannt:
Nach Artikel 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 85/577/EWG vom 20.
Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von
Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen fällt ein Bürgschaftsvertrag, der von
einer nicht im Rahmen einer Erwerbstätigkeit handelnden natürlichen Person
geschlossen wird, nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie, wenn er die
Rückzahlung einer Schuld absichert, die der Hauptschuldner im Rahmen seiner
Erwerbstätigkeit eingegangen ist.
WatheletMoitinho de Almeida
Edward
Jann Sevón
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. März 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
C. Gulmann