Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

vaterland, n.

vaterland, n.
patria.
1)
das wort in den älteren germanischen dialekten ungebräuchlich, ist durch andere wörter ersetzt, so besonders heim, ags. hâm, alts. hêm, goth. haimôþli oder ags. êđel, alts. ôđil, altn. ôđal oder composita wie ags. fæderêđel Bosworth (1882) 263ᵃ; ebenso steht land = vaterland goth. Marc. 6, 1, alts. Heliand 684, 771. im nord. föđurland zwar nachweisbar, doch selten und 'modern klingend' (Vigfusson 137, welcher isländ. ættgörd, fostrjörd als das geläufigere anführt). ähnliche vertretungen im ältern ahd., so uodal mit dem compositum fateruodal Graff 1, 144, heim mit faterheim 4, 918, heimôti 951, welche wörter alle mit patria glossirt werden. vgl. Grimm gesch. d. d. spr. 792. vaterland zuerst nachgewiesen aus Heinrici summarium: uaterlant, patria Graff Diutiska 3, 246 cap. 15; im mhd. ist es schon allgemein geworden, während das ältere nd. es noch nicht kennt; in den heutigen germanischen sprachen neben ähnlichen bildungen eingebürgert: holländ. vaderland, neuengl. fatherland (nachweisbar im anfange dieses jahrhunderts, dem deutschen nachgebildet, vgl. Herrig archiv 8, 260), dän. fædreland, daneben fäderneland, schwed. fädernesland. der plur. vaterländer selten, doch: dasz Preuszen für seine kriegsmacht zu wenig vaterländer habe. Hippel lebensl. 4, 224.
2)
bedeutung. nach theil 6, 91 ist land ursprünglich der zu bebauende acker, vaterland ist vielleicht in erster bedeutung der vom vater besessene acker, der als väterliches erbe mir zufällt. diese bedeutung, nicht direct nachweisbar, liegt klar vor uns, wenn wir die zusammensetzung mit der zusammenstellung vertauschen; des vaters land, die besitzung des vaters:
edelkn. wohin denn? wohin
mit dem rechen in der hand?
müllerin. auf des vaters land,
auf des vaters wiese.
Göthe 1, 205.
die weitere entwicklung wird wahrscheinlich durch analoge begriffsübergänge in wörtern, wie faterheim, eigentlich haus des vaters, faderuodal, besitz des vaters, welche beide in die bedeutung patria übergehen. vgl. ähnlichen übergang bei vatererbe.
3)
land, worin mein vater lebte, als welches landes angehöriger ich mich betrachte; oft zusammenfallend mit geburtsland, doch ist dies nicht nötig (Weigand synonymik 1, 512): mhd.
dî werden pilgerîne ..
dî deme lobesamen
fursten sunder schande
ûʒe ir vaderlande
in daʒ reine godes her
gevolget hatten uber mer.
Elisab. 6065.
in der übergangszeit zum nhd.: patria, vaderlant, vaterlant, vatterlant Dief. 416ᶜ, watter lant nov. gloss. 283ᵃ; nhd. vatterland, patria, natale solum, genitale solum Dasyp. 445ᵇ; das vatterlandt oder heymet. 173ᵇ; ausz dem vatterland weichen, cedere patria. 28ᵇ; ejuravit patriam, er hat sein vaterland verschworen. 107ᵇ; so ging aus Abraham von seim vaterland und wuste nicht wohin. Luther 1, 24ᵇ; zu erhalten das gesetz, den tempel, die stad, das vaterland und regiment. 2 Macc. 13, 14; Jhesus aber sprach zu jnen, ein prophet gilt nirgend weniger, denn in seinem vaterland und in seinem hause. Matth. 13, 57; von wem haben sie dann weiter gelehrt, dasz ein jeder gott dienen müsse, nach der weise und manier seines vaterlands und seiner vorältern anders, dann von Pythagora und Platone. Fischart bienenk. 57ᵃ; es solte auch unser betrübtes vaterland von gott bald erhört .. sein, wie alle treue patrioten wündtschen und hoffen. Opitz 3, 69; keine kriegsgurgeln, so die leute berauben und verderben, sondern soldaten, die das vatterland beschirmen. Simpl. 2, 73, 21 Kurz; wehe unserm liebwerthen vatterland, welches durch frembder lande reisen mit frembden lastern so angefüllet. Philander 1, 9; eine andere (Zayre) .. die sich damit endet, dasz der sultan .. die christliche Zayre in ihr vaterland schickt. Lessing 7, 74; es ist eben dieses Aethiopien, welches mein gelehrter freund hier mit ungeheuern von menschen bevölkert, die eines so schönen vaterlandes ganz unwürdig sind. Wieland 19, 38; selbst mit vielem vergnügen würde ich sie in ihrem vaterland aufsuchen. Göthe 43, 9; seitdem ich sie wieder in ihr vaterland gerettet weisz. 43, 13; als ich das vaterland aus den augen verloren hatte, fand ich es im herzen wieder. H. Heine 3, 11;
es ist war, ich bin ein fürst wolbekant
in deutscher nation, mein vaterlant.
Schade sat. u. pasqu. 1, 69, 47;
dann ist das nit ein arger strick,
den man von jugend offt und dick
in allem guten hat gelehrt,
vom vaterland viel guts gehört,
dasz erst derselb nit solt gerathen,
ja jhm wol selber noch zum schaden
und seinem vaterland zu trutz
darff werden erst ein teuffels butz.
Fischart dicht. 1, 6, 133 Kurz;
o jhr scribenten wol erkannt,
die jhr durch ewer schrifft
berhümt macht ewer vatterland
und ewig ehr euch stifft.
Garg. (1590) 546;
der mit redlichem gewissen
für gott und für das vaterland,
für gott, der ihn es läszt geniessen,
zu fechten geht mit strenger hand.
Opitz 2, 211;
das vaterland geht für, dem alles weichen musz.
Lohenstein Sophon. 406;
so entreiszt sich ein held der könige weichlichen töchtern,
ruft ihn der tod für das vaterland.
Klopstock Mess. 3, 282;
ans vaterland, ans theure, schliesz dich an.
Schiller hist.-krit. ausg. 14, 313;
nicht das vaterland und nicht der väter
glauben möcht ich und gesetz verläugnen.
Platen 324;
nicht nur die heimat eines einzelnen, sondern auch eines volkes oder völkergebietes: die Franzosen lieben ihr vaterland; alle edeln herzen des europäischen vaterlandes verachten seine kleinen henker. H. Heine 3, 56. von der gesamten menschheit gesagt:
(die bahn) führet hinauf
zu dem vaterlande des menschengeschlechts.
Klopstock 1, 252.
da nach christlicher anschauung der himmel für die wahre heimat gehalten wird, heiszt letzterer oft vaterland und wird durch die beiwörter ewig, himmlisch u. s. w. von der erde unterschieden: mhd. dâ von sie ir armuot in disem ellente nieʒent wider die sælekeit des selben vaterlandes. mystiker 396, 5; nhd. das do warlich unser vaterland ist, von dem sint wir vertriben. Keisersberg christl. bilg. vorr. 2;
das best erb ist jm vatterlandt,
do wir hyn hoffen allesandt.
Brant narrensch. 94, 33;
denn gott nach dem zeitlichen lebn,
das ewig vaterland wirt gebn.
H. Sachs 1, 23 (1, 110, 8 Keller);
ich werd vom todt als herr und got
wider aufston und euch vorgon
inns himmlisch vatterlande.
Wackernagel kirchenl. 3, 139ᵃ;
der unsre seelen führet
hin in das vaterland,
da er an gottes hand
sitzt, herrschet und regieret.
Opitz 3, 150;
im gegensatze dazu das irdische vaterland u. ähnl.: gib uns, das uns das zeitliche vaterland und irdische erbgut nicht betriege. Luther 1, 326; nun ade zu guter nacht, ich gehe nun jetzund von hinen ausz diesem irdischen vaterlandt in ein ewiges reich. H. J. v. Braunschweig Susanna 3, 4.
4)
vaterland, heimat der thiere, pflanzen, steine: der amerikanische bär .. hielt auch in Schweden die amerikanische tag— und nachtzeit .. mit seinen übrigen instinkten erhielt er sich auch seines vaterlandes zeitmaas. Herder (1820) 3, 72;
die ochsen sendet Polen,
Westphalen feiste säu und Frieszland starcke fohlen ..
des esels vaterland ist diese ganze welt.
Opitz 1, 96;
vor allen dingen
möcht ich nun gern, — mit gott wirds ja gelingen! —
das treue thier auch in sein vaterland —
wie heiszts doch gleich? — zurück wol bringen.
Gökingk 2, 145;
in der künstlichen wärme des treibhauses hielt jede (pflanze) noch die zeit ihres vaterlandes, wenn sie auch 50 jahr in Europa gewesen war. Herder (1820) 3, 62; das vaterland des bernsteins. Becker weltg. 5, 163.
5)
von dem entstehungsorte unbelebter dinge und abstracter begriffe gesagt, welche in solcher fügung personificirt werden: die erotischen gesänge erkennen Ionien für ihr vaterland. Wieland 19, 8; jene erklärung der menschenrechte .. stammt aus dem himmel, dem ewigen vaterland der vernunft. H. Heine 8, 7;
zögernd, fast verzagt, verliesz ich
den geweihten boden Frankreichs,
dieses vaterlands der freiheit.
17, 47;
sei es unter schlanken palmen
in des ostens würzebrand,
oder unterm dach von halmen
in des winters vaterland.
Rückert 1, 245;
was begehrt ihr schnöde götzendiener
hier im vaterland des wahren glaubens?
Platen 335.
6)
gern wird das vaterland persönlich gefaszt, so z. b. ruft, winkt das vaterland u. s. w.:
du hebst den tritt der unsterblichen
und gehest hoch vor vielen landen her,
o schone mein! ich liebe dich, mein vaterland!
Klopstock 1, 252;
der feldherr,
welchem das vaterland gebot, den erobrer zu strafen.
Mess. 7, 132;
und ihre hand zu weihn und fort zu schützen
die mutter vaterland.
Herder (1820) 15, 192;
so kann das vaterland auf euch nicht zählen,
wenn es verzweiflungsvoll zur nothwehr greift?
Schiller hist.-krit. ausg. 14, 293;
dem verstorbenen klagte das vaterland nach und freute sich an dem denkmal, das ihm sein gönner gestiftet. Göthe 26, 111; an dieser glühenden brust soll mein herz wieder erwarmen, das am todtenbett des vaterlands einfriert. Schiller hist.-krit. ausg. 3, 33.
7)
vaterland gleich vaterstadt (s. d.).
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 1 (1886), Bd. XII,I (1956), Sp. 27, Z. 29.

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Zitationshilfe
„vaterland“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/vaterland>.

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