Volkmar Sigusch

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Volkmar Sigusch (* 11. Juni 1940 in Bad Freienwalde (Oder)) ist ein deutscher Psychiater und Sexualwissenschaftler und gilt als Pionier der Sexualmedizin in Deutschland.[1] Er gründete 1972 das Institut für Sexualwissenschaft am Universitätsklinikum Frankfurt und war bis zu seiner Emeritierung und Schließung des Instituts im Jahr 2006 dessen Direktor.[2] Sigusch etablierte in Frankfurt am Main die Sexualmedizin als eigenständige Disziplin. Er habilitierte sich weltweit als Erster im Fach Sexualwissenschaft.[3] Das von ihm verfasste Lehrbuch Sexuelle Störungen und ihre Behandlung gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie.[1]

Leben

Als Sohn eines Bankdirektors wuchs Sigusch in der DDR auf. Im Jahr des Mauerbaus (1961) floh Sigusch aus der DDR.[3] Sein Medizinstudium hatte Sigusch an der Humboldt-Universität zu Berlin begonnen. Nach seiner Flucht in der Bundesrepublik angekommen, studierte er Medizin, Psychologie und Philosophie an den Universitäten in Frankfurt am Main und Hamburg. Zu seinen Lehrern gehörten Max Horkheimer und Theodor Adorno. Im Jahr 1966 wurde er zum Dr. med. mit einer experimentell-psychologischen Arbeit über die Struktur von Vorurteilen promoviert.[4] Nach seiner psychiatrischen Ausbildung vor allem bei Hans Bürger-Prinz wurde Sigusch 1972 an der Universität Hamburg im Fach Sexualwissenschaft habilitiert.[5] Seit seiner Berufung auf den neu eingerichteten Frankfurter Lehrstuhl für Sexualwissenschaft im selben Jahr gehörte er als Hochschullehrer neben dem Fachbereich Medizin auch dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an, in dem er Professor für spezielle Soziologie war. Außerdem war Sigusch zwölf Jahre lang geschäftsführender Direktor des Zentrums der psychosozialen Grundlagen der Medizin (ZPG) des Klinikums der Goethe-Universität Frankfurt, in dem die Fächer Medizinische Psychologie, Medizinsoziologie, Arbeitsmedizin und Sexualwissenschaft vertreten waren. Die Schließung seines Instituts und zugleich des ZPG habe „einer biologistisch ausgerichteten Psychiatrie“ den Vorzug gegeben, so Lutz Garrels, Psychoanalytiker und ehemaliger Mitarbeiter Siguschs.[3]

Werk

Bald nach Übernahme seines Lehrstuhls gründete er 1973 die International Academy for Sex Research zusammen mit Wissenschaftlern wie William Masters, John Money, Gunter Schmidt. Sigusch gilt als „Begründer der kritischen Sexualwissenschaft“.[6] Er war erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, der ältesten und größten Fachgesellschaft in Deutschland.

Sigusch war Mitherausgeber der Zeitschrift für Sexualforschung (bisher 22 Jahrgänge) und veröffentlichte über 25 Bücher, die medizinkritische, gesellschaftstheoretische beziehungsweise sexualwissenschaftliche Themen behandeln.[7] So war er zusammen mit Martin Dannecker und Gunter Schmidt Herausgeber der Buchreihe Beiträge zur Sexualforschung, die bis 1999 im Enke-Verlag erschien und seit dem Jahr 2000 im Psychosozial-Verlag mit bisher über 94 Bänden verlegt wird.[8] Von 1979 bis 1986 gab er das populäre Periodikum Sexualität konkret heraus, zu dem Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, Schriftsteller, Publizisten und Künstler Beiträge lieferten.

Sigusch versuchte den Begriff Neosexuelle Revolution in der Sexualwissenschaft einzuführen.[9] 1991 prägte Sigusch den Begriff „Zisgender“ (heutige Schreibweise: Cisgender).[10]

Die Schließung des von Sigusch geleiteten Instituts für Sexualwissenschaft erfolgte nach seiner Emeritierung 2006. Sigusch habe die Entscheidung, die Sexualwissenschaft der psychiatrischen Abteilung der Universität zuzuordnen, als „Niederlage“ empfunden, weil er sein „ganzes Berufsleben lang [...] gegen die ‚Psychiatrisierung‘ sexueller Störungen gekämpft“ habe.[11]

Auszeichnungen

Veröffentlichungen (Auswahl)

Bisher veröffentlichte Sigusch mehr als 850 wissenschaftliche Beiträge,[5] Unter anderem:

  • mit Gunter Schmidt: Das Vorurteil gegenüber sexuell devianten Gruppen. 1967.
  • Exzitation und Orgasmus bei der Frau. 1970.
  • mit Gunter Schmidt und Eberhard Schorsch: Tendenzen der Sexualforschung. 1970.
  • mit Gunter Schmidt: Arbeiter-Sexualität. 1971.
  • mit Gion Condrau, Jean-G. Lemaire u. a.: Die Zukunft der Monogamie. 1972.
  • Ergebnisse zur Sexualmedizin. 1972, 1973.
  • mit Gunter Schmidt: Jugendsexualität. Stuttgart 1973.
  • Medizinische Experimente am Menschen. Das Beispiel Psychochirurgie. In: Jahrbuch für kritische Medizin, Beilage zu AS [Argument Sonderband] 17. Argument-Verlag, Berlin 1977, ISBN 3-920037-85-5 (31 Seiten).
  • Therapie sexueller Störungen. Stuttgart 1975, 1980.
  • Sexomemomedico. 1978, 1979, 1980, 1981.
  • Sexualität und Medizin. 1979.
  • Die sexuelle Frage. 1982.
  • Vom Trieb und von der Liebe. 1984.
  • Die Mystifikation des Sexuellen. Frankfurt am Main 1984.
  • mit Martin Dannecker: Sexualtheorie und Sexualpolitik. 1984.
  • mit Ingrid Klein und Hermann L. Gremliza: Sexualität konkret. Sammelband 2, 1984, 1985.
  • Operation AIDS. 1986.
  • AIDS als Risiko. 1987.
  • mit Steffen Fliegel: AIDS. Ergebnisse eines Kongresses. 1988.
  • Geburt und Tod unserer Sexualität als Gefühl und Begriff. Zur gegenwärtigen Kritik von Liebe, Homosexualität und Perversion. In: Lettre International. Berlin. Paris. Heft 4. 1989. S. 82–85.
  • Kritik der disziplinierten Sexualität. 1989.
  • Anti-Moralia. 1990.
  • Geschlechtswechsel. 1992, 1993, 1995.
  • Die Zerstreuung des Eros. In: Der Spiegel. Nr. 23, 1996 (online).
  • Die Trümmer der sexuellen Revolution, in Die Zeit, 41/1996.
  • Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 1996, 1997, 2001, 2007
  • Karl Heinrich Ulrichs. Der erste Schwule der Weltgeschichte [zum 175. Geburtstag Ulrichs’]. Verlag rosa Winkel, Berlin 2000, ISBN 3-86149-105-2 (127 Seiten).
  • Vom König Sex zum Selfsex. Über gegenwärtige Transformationen der kulturellen Geschlechts- und Sexualformen. In: Christiane Schmerl, Stefanie Soine, Marlene Stein-Hilbers, Birgitta Wrede (Hrsg.): Sexuelle Szenen. Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften. Leske und Budrich, Opladen 2000, ISBN 3-8100-2893-2, S. 229–249.
  • mit Ilka Quindeau: Freud und das Sexuelle. Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven. 2005.
  • Praktische Sexualmedizin. Eine Einführung. Durchgesehene und erweiterte Neuausgabe. Campus Verlag, Frankfurt am Main/ New York 2020, ISBN 978-3-593-51312-6.
  • Sexuelle Welten. Zwischenrufe eines Sexualforschers (= Beiträge zur Sexualforschung. Band 87). Psychosozial-Verlag, Gießen 2005, ISBN 3-89806-482-4.
  • Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt am Main/ New York 2005, ISBN 978-3-593-37724-7.
  • mit Günter Grau: Der Kampf um das Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft. Aufruf – Proteste – Beschlüsse. Frankfurt am Main 2006 (psychosozial-verlag.de [PDF; 493 kB; abgerufen am 11. August 2021]).
  • Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt am Main/ New York 2008, ISBN 978-3-593-38575-4.
  • mit Günter Grau: Personenlexikon der Sexualforschung. Frankfurt am Main/ New York, 2009.
  • Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit. Über Sexualforschung und Politik. Frankfurt am Main/ New York 2011, ISBN 978-3-593-39430-5.
  • mit Günter Amendt und Gunter Schmidt: Sex tells. Sexualforschung als Gesellschaftskritik. Hamburg 2011, ISBN 978-3-930786-61-9.
  • Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Campus. Frankfurt am Main/New York 2013, 626 S. ISBN 978-3-593-39975-1 (zeitgleich ist eine Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft mit anderem Cover erschienen; außerdem ist 2018 eine zweibändige Ausgabe auf Chinesisch erschienen, finanziert vom Goethe-Institut China: Peking, Social Sciences Academic Press).[14]
  • Das Sex-ABC. Notizen eines Sexualforschers. Frankfurt am Main/ New York 2016, ISBN 978-3-593-50636-4.
  • Kritische Sexualwissenschaft. Ein Fazit. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2019, ISBN 978-3-593-51057-6.
  • Paradoxale Verhältnisse. In: Heinz-Jürgen Voß (Hrsg.): Die deutschsprachige Sexualwissenschaft. Bestandsaufnahme und Ausblick (= Angewandte Sexualwissenschaft. Band 28). Psychosozial Verlag, Gießen 2020, ISBN 978-3-8379-3016-0, S. 21–36.

Film

  • „Vom Trieb und von der Liebe“, Film über Volkmar Sigusch von Klaus Podak, 1984

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b Perlentaucher: Volkmar Sigusch
  2. Susanne Mayer: Das Wilde ist bedroht. In: Zeit Online. 4. September 2014, abgerufen am 13. April 2018.
  3. a b c Lutz Garrels: Laudatio für Volkmar Sigusch anlässlich der Verleihung des Sigmund-Freud-Kulturpreises am 30. Mai 2019 im Festsaal der Goethe-Universität Frankfurt am Main, in: Zeitschrift für Sexualforschung. Band 33, Nr. 1, 2020, S. 35–38.
  4. Goethe-Universität Frankfurt am Main: Prof. Dr. med. Volkmar Sigusch, abgerufen am 17. Februar 2022.
  5. a b Prof. Dr. med. Volkmar Sigusch. Curriculum vitae. Goethe-Universität, abgerufen am 12. Januar 2018.
  6. Konrad Hilpert, Sigrid Müller (Hrsg.): Humanae vitae - die anstößige Enzyklika: Eine kritische Würdigung, Herder, Freiburg/Basel/Wien 2018, ISBN 9783451832567, S. 347
  7. Christiane Schmerl, Stefanie Soine, Marlene Stein-Hilbers, Birgitta Wrede (Hrsg.): Sexuelle Szenen: Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften, Springer, Wiesbaden 2000, ISBN 9783663113577, S. 282–283
  8. Beiträge zur Sexualforschung. Hertha Richter-Appelt, Sophinette Becker, Andreas Hill, Martin Dannecker, abgerufen am 16. Juni 2017.
  9. Christiane Schmerl, Stefanie Soine, Marlene Stein-Hilbers, Birgitta Wrede (Hrsg.): Sexuelle Szenen: Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften, Springer, Wiesbaden 2000, ISBN 9783663113577, S. 227
  10. Meike Fries: "Es muss endlich um die Opfer gehen". In: Zeit Online. 12. Mai 2010 (zeit.de [abgerufen am 11. Juni 2020]).
  11. Sascha Zoske: Aus für Sexualwissenschaft. In: Frankfurter Allgemeine. 24. August 2006, abgerufen am 4. November 2018.
  12. Ausgezeichnete Werke Oktober 2010 (Memento vom 28. März 2016 im Internet Archive)
  13. Klaus Grabska, Maria Johne: Sigmund Freud-Kulturpreis. In: Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft. 31. Mai 2019, abgerufen am 11. Juni 2020 (Laudatio).
  14. Lesesalon „Sexualitäten“. Jin Xing im Gespräch mit Li Yinhe. 28. November 2018, abgerufen am 30. August 2020.