BGH (Zivilsachen)
Bundesgerichtshof Urt. v. 24.02.1994, Az.: IX ZR 227/93
Bürgschaft; Kind; Finanzielle Leistungsfähigkeit; Pflicht zur Rücksichtnahme; Sittenwidrigkeit; Verharmlosung des Risikos

Bundesgerichtshof
Urt. v. 24.02.1994, Az.: IX ZR 227/93

Bürgschaft; Kind; Finanzielle Leistungsfähigkeit; Pflicht zur Rücksichtnahme; Sittenwidrigkeit; Verharmlosung des Risikos

Amtlicher Leitsatz

1. Veranlassen Eltern hauptsächlich aus eigenem Interesse ihre geschäftsunerfahrenen Kinder, eine Bürgschaft zu leisten, die deren voraussichtliche finanzielle Leistungsfähigkeit bei weitem übersteigt, so verletzen die Eltern i. d. R. ihre familienrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 1618a BGB) und handeln wider die guten Sitten. Hat die Gläubigerbank ein solches Handeln der Eltern gekannt oder grob fahrlässig außer acht gelassen, kann die Bürgschaft nach § 138 I BGB nichtig sein.

2. Leisten geschäftsunerfahrene Kinder zugunsten ihrer Eltern eine Bürgschaft, die ihre voraussichtliche finanzielle Leistungsunfähigkeit bei weitem übersteigt, kann der Vertrag nach § 138 I BGB nichtig sein, wenn ein Angestellter des Kreditinstituts dem Bürgen gegenüber vor Unterzeichnung der Urkunde Tragweite oder Risiko der Verpflichtung verharmlost hat.

Tatbestand:

1

Der Vater der Klägerin war als Immobilienmakler tätig; außerdem errichtete und verkaufte er Eigentumswohnungen. Als er im Jahre 1982 eine Erweiterung seines Kreditlimits auf dem Konto Nr. 172429 von 50.000 auf 100.000 DM begehrte, forderte die beklagte Sparkasse ihn auf, eine Bürgschaft seiner Tochter, der Klägerin, beizubringen. Diese war damals 21 Jahre alt, verdiente als Arbeiterin ca. 1.150 DM netto monatlich und verfügte über kein Vermögen.

2

Am 29. November 1982 unterzeichnete die Klägerin in den Räumen der Beklagten eine selbstschuldnerische Bürgschaft bis zum Betrag von 100.000 DM zuzüglich Nebenleistungen zur Sicherung aller bestehenden und künftigen Forderungen der Beklagten gegen den Hauptschuldner "aus ihrer Geschäftsverbindung (insbesondere aus laufender Rechnung, Krediten und Darlehen jeder Art und Wechseln) sowie aus Wechseln, die von Dritten hereingegeben werden, Bürgschaften, Abtretungen oder gesetzlichem Forderungsübergang". Am folgenden Tage bewilligte die Beklagte die Krediterhöhung. Die Beklagte hatte dem Vater der Klägerin damals außerdem einen Zwischenkredit von 3 Mio DM für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses bewilligt. Dieses Darlehen war in Höhe von etwa 2, 5 Mio DM valutiert, als die Klägerin die Bürgschaft erteilte.

3

Im Jahre 1984 gab der Hauptschuldner sein Immobiliengeschäft auf und betätigte sich als Reeder, wofür er weitere Darlehen von der Beklagten erhielt. Als er etwa zwei Jahre später in Vermögensverfall geriet, kündigte die Beklagte alle Kredite. Die Verbindlichkeiten des Hauptschuldners betrugen seit dem Tage, als die Klägerin die Bürgschaft unterzeichnete, ständig mehr als 100.000 DM.

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Die Klägerin hat zunächst auf Feststellung der Unwirksamkeit ihrer Bürgschaft geklagt. Als die Beklagte Widerklage auf Zahlung von 100.000 DM nebst Zinsen erhoben hatte, erklärten die Parteien die Klage übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt.

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Das Landgericht hat der Widerklage stattgegeben. Das Berufungsgericht hat sie abgewiesen. Auf die Revision der Beklagten hat der Senat durch Urteil vom 16. März 1989 (IX ZR 171/88 - ZIP 1989, 629) die erstinstanzliche Entscheidung wiederhergestellt. Dieses Urteil wurde durch Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1993 (ZIP 1993, 1775) aufgehoben und die Sache an den Senat zurückverwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Revision ist unbegründet.

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I. Das Berufungsgericht hat die Zahlungsklage abgewiesen, weil der Klägerin ein Schadensersatzanspruch wegen Verschuldens bei Vertragsverhandlungen zustehe, der die Beklagte verpflichte, die Klägerin aus der Bürgschaft zu entlassen. Die Bank brauche zwar nicht über das Risiko der Bürgschaft aufzuklären. Sie dürfe jedoch - insbesondere gegenüber dem erkennbar geschäftsungewandten Bürgen - Art, Umfang und Risiko der Bürgenhaftung nicht bagatellisieren und dadurch seinen Willensentschluß beeinflussen. Entsprechendes sei hier geschehen. Nach der glaubhaften Aussage des Vaters der Klägerin habe der Angestellte der Beklagten vor der Unterzeichnung sinngemäß erklärt: "Hier bitte, unterschreiben Sie mal, Sie gehen dabei keine große Verpflichtung ein, ich brauche das für meine Akten". Durch diese Äußerung sei der Klägerin der Eindruck vermittelt worden, ihr könne im Ergebnis nicht viel zustoßen. Damit habe der Vertreter der Beklagten die Bedeutung der übernommenen Haftung geradezu grotesk verniedlicht. Die Klägerin hätte die Bürgschaft nicht erteilt, wenn der Angestellte der Beklagten das mit der Verpflichtung verbundene Risiko nicht bagatellisiert hätte.

8

II. Diese Ausführungen halten im Ergebnis der rechtlichen Nachprüfung stand. Der Bürgschaftsvertrag mit der Tochter des Hauptschuldners verstößt infolge der besonderen Umstände, unter denen er zustande gekommen ist, gegen die guten Sitten und ist daher nichtig (§ 138 Abs. 1 BGB).

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1. Das Berufungsgericht geht ohne weiteres davon aus, daß die Bürgschaftsurkunde die Hauptschuld hinreichend bestimmt. Das ist insoweit zutreffend, als Ziffer 1 des Formulars Ansprüche aus der Geschäftsverbindung zwischen der Beklagten und dem Vater der Klägerin erfaßt.

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Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, an der der Senat festhält, ist der Schuldgrund hinreichend bestimmt, wenn auf bestehende und künftige Forderungen verwiesen wird, die aus einem festgelegten Kreis von Rechtsbeziehungen entstehen können. Dieser ist mit dem Begriff der Geschäftsverbindung, die im Klammerzusatz näher erläutert wird, genügend konkret beschrieben (vgl. BGHZ 25, 318, 321; BGH, Urt. v. 6. Dezember 1984 - IX ZR 115/83, NJW 1985, 848; v. 16. Januar 1992 - IX ZR 113/91, ZIP 1992, 233). Zwar sind die übrigen Teile der Klausel, weil sie eine darüber hinausgehende Verpflichtung ohne jede sachliche Begrenzung begründen sollen, unwirksam (vgl. Senatsurt. v. 5. April 1990 - IX ZR 111/89, NJW 1990, 1909; v. 16. Januar 1992 aaO S. 234). Davon unberührt bleibt jedoch die Bürgschaftsverpflichtung, die sich auf Verbindlichkeiten aus der Geschäftsverbindung zwischen der Klägerin und den Hauptschuldnern bezieht. Der erste Teil der Bestimmung der Hauptschuld läßt sich von den nachfolgenden Absätzen inhaltlich und sprachlich trennen; er ergibt für sich allein einen vollständigen Sinn und bleibt daher gemäß § 6 Abs. 1 AGBG wirksam. Die hier zu beurteilende Bürgschaftsklausel entspricht in Form und Inhalt im wesentlichen derjenigen, die der Senat im Urteil vom 16. Januar 1992 (aaO) zu würdigen hatte. Die dort aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Aufrechterhaltung des zulässigen Teils einer AGB-Bestimmung (vgl. BGHZ 106, 19, 25;  107, 185, 190;  109, 197, 203) abgeleiteten Gründe gelten hier in gleicher Weise.

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2. Ein Rechtsgeschäft ist nach § 138 Abs. 1 BGB nur dann nichtig, wenn es in seinem aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu entnehmenden Gesamtcharakter den guten Sitten widerspricht, wobei allein auf die Umstände bei Vertragsschluß abzustellen ist (BGHZ 86, 82, 88;  107, 92, 97;  BGH, Urt. v. 16. Januar 1992, aaO S. 235). Die Tatsache, daß der Inhalt des Vertrages nur die Klägerin in erheblichem Umfang belastet, stellt für sich die Wirksamkeit der Bürgschaft noch nicht in Frage. Diese hat vielmehr schon kraft Gesetzes in aller Regel eine einseitige Verpflichtung zugunsten des Gläubigers zum Gegenstand. Inhalt und Sinn eines solchen Vertrages bestehen grundsätzlich ausschließlich darin, dem Gläubiger eine Sicherung für bestimmte Ansprüche gegen den Hauptschuldner zu gewähren. Die Bürgschaft ist daher strukturell nicht von einer angemessenen und im Grundsatz gleichwertigen Berücksichtigung gegenseitiger Interessen geprägt, sondern in ihrem rechtlichen Kern darauf angelegt, nur einer Seite Vorteile zu verschaffen.

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3. Die eingegangene Verpflichtung ist auch nicht bereits deshalb rechtlich zu mißbilligen, weil die Bürgin im Zeitpunkt ihrer Willenserklärung nicht die Einkünfte oder das Vermögen zur Erfüllung der Verbindlichkeiten hatte, für die sie haften soll. Die von der Verfassung im Rahmen von Gesetz und Recht gewährleistete Privatautonomie umfaßt unter anderem die Freiheit der Vertragsgestaltung. Diese bildet eine wesentliche Grundlage der geltenden Privatrechtsordnung. Aus der Vertragsfreiheit folgt, daß es grundsätzlich jedem unbenommen sein muß, in eigener Verantwortung auch risikoreiche Geschäfte abzuschließen und sich zu Leistungen zu verpflichten, die nur unter besonders günstigen Bedingungen, gegebenenfalls unter dauernder Inanspruchnahme des pfändungsfreien Einkommens, erbracht werden können. Diesem die Rechtsprechung des erkennenden Senats prägenden Grundsatz (vgl. BGHZ 106, 269, 272 [BGH 19.01.1989 - IX ZR 124/88];  107, 92, 98;  BGH, Urt. v. 16. Mai 1991 - IX ZR 245/90, NJW 1991, 2015, 2016; v. 16. Januar 1992 - IX ZR 113/91, ZIP 1992, 233, 235 f) stimmt der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zu (Urt. v. 24. November 1992 - XI ZR 98/92, ZIP 1993, 26, 27, z.V. in BGHZ 120, 272 bestimmt). In der Regel vermag jede unbeschränkt geschäftsfähige Person zu erkennen, daß sie mit einer Bürgschaft ein erhebliches persönliches Risiko eingeht, die Tragweite ihres Handelns entsprechend einzuschätzen und danach ihre Entscheidung zu treffen. Davon ist im Ansatz auch dann auszugehen, wenn der Bürge dem Hauptschuldner verwandtschaftlich eng verbunden ist (BGHZ 106, 269, 272 [BGH 19.01.1989 - IX ZR 124/88];  107, 92, 103; Urt. v. 16. Mai 1991 - IX ZR 245/90; v. 16. Januar 1992 - IX ZR 113/91; jeweils aaO).

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4. Verpflichtet sich der Bürge in einem Umfang, der seine gegenwärtigen und zukünftig zu erwartenden Einkommens- und Vermögensverhältnisse weit übersteigt, kann ein solcher Vertrag jedoch dann gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig sein, wenn der Bürge durch weitere Umstände in einer dem Gläubiger zurechenbaren Weise zusätzlich erheblich belastet wird, die zu einem unerträglichen Ungleichgewicht der Vertragspartner führen. Solche Belastungen können sich insbesondere daraus ergeben, daß der Gläubiger die geschäftliche Unerfahrenheit oder eine seelische Zwangslage des Bürgen ausnutzt oder auf andere Weise ihn in seiner Entscheidungsfreiheit unzulässig beeinträchtigt.

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5. Der Vater der Klägerin hat in rechtlich zu mißbilligender Weise - unter Verstoß gegen § 1618 a BGB - ihre Entschließung, sich gegenüber der Sparkasse zu verpflichten, beeinflußt. Der Beklagten sind diese Umstände zuzurechnen; denn sie hat die Einwirkung auf die Bürgin mindestens grob fahrlässig außer acht gelassen.

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a) Die grundrechtlich geschützte Privatautonomie vermag das Abschließen risikoreicher und zugleich einseitig belastender Geschäfte nur zu rechtfertigen, sofern beide Partner in der Lage sind, sich in Freiheit für oder gegen eine vertragliche Bindung zu entscheiden. Erst diese Freiheit sowie die uneingeschränkte Erkenntnismöglichkeit, mit welchen Rechtsfolgen die in Frage stehende Verpflichtung verbunden sein kann, ergeben die Rechtfertigung dafür, den Bürgen trotz ihn außergewöhnlich belastender Rechtsfolgen an der selbstverantwortlich getroffenen Entscheidung festzuhalten (BVerfG ZIP 1993, 1775, 1779).

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Die Gefahr, daß dem Bürgen eine freie Entscheidung in unzumutbarer Weise erschwert wird, besteht besonders dann, wenn junge Erwachsene, die noch in der Ausbildung oder am Anfang ihrer beruflichen Tätigkeit stehen, mit anderen Worten geschäftlich unerfahren sind, von ihren Eltern gebeten werden, zu deren Gunsten eine Haftung für Verbindlichkeiten aus Rechtsgeschäften zu übernehmen, an denen die Kinder selbst kein eigenes rechtliches oder wirtschaftliches Interesse haben. Treten Eltern mit einem solchen Ansinnen an sie heran, werden gerade junge, erst wenige Jahre volljährige Erwachsene, deren persönliche Beziehung zu ihren Eltern ungestört ist, sich in ihrer Entschließung hauptsächlich davon leiten lassen, dem Wunsch der Eltern zu entsprechen. Gerade dann kann es leicht geschehen, daß emotionale Erwägungen im Vordergrund stehen und die Bürgschaft allein im Vertrauen auf Fähigkeiten und gute Absichten der Eltern erteilt wird. In solchen Fällen liegt es daher besonders nahe, daß der Bürge die Notwendigkeit, sich das erhebliche Risiko bewußt zu machen, das er für seine weitere Lebensgestaltung eingeht, verdrängt. Junge Erwachsene, die in der Regel noch über geringe geschäftliche Erfahrung verfügen, sind in einer solchen Situation besonders in der Gefahr, nicht frei und nüchtern zu entscheiden, sondern dem Wunsch der Eltern aus einer seelischen Zwangslage heraus ohne größere Überlegung zu entsprechen. Sie vermögen dann schwerlich das Ausmaß der Folgen zu sehen, die ihre Unterschrift möglicherweise nach sich zieht.

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b) Das Begehren der Eltern an ihre erwachsen gewordenen Kinder, allein aus familiärer Hilfsbereitschaft eine Bürgschaft zu leisten, die weit über deren finanzielle Leistungsfähigkeit hinausgeht, ist häufig sittlich fragwürdig und mit den auch volljährigen Kindern gegenüber bestehenden Pflichten nicht zu vereinbaren. Schon die Gestaltung des Unterhaltsrechts, besonders aber die mit der Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge eingeführte Bestimmung des § 1618 a BGB macht deutlich, daß Eltern und Kinder einander lebenslang Beistand und Rücksichtnahme schulden (vgl. BVerfGE 57, 170, 178; Knöpfel FamRZ 1985, 554 ff). Diese Norm begründet echte Rechtspflichten, an deren Verletzung freilich keine unmittelbaren Sanktionen geknüpft sind (MünchKomm-BGB/Hinz, 3. Aufl. § 1618 a Rdnr. 2; Soergel/Strätz, BGB 12. Aufl. § 1618 a Rdnr. 3). Insbesondere die Verpflichtung zur Rücksichtnahme kann es gebieten, eigene Wünsche zurückzustellen, wenn dies bei vernünftiger Abwägung mit den Interessen des anderen sachlich geboten ist. Veranlassen Eltern ihre Kinder, eine Bürgschaft zu leisten, die zur Folge hat, daß jene bei Eintritt des Risikos auf unabsehbare Zeit oder gar lebenslang hohe Zahlungen an den Gläubiger leisten müssen, so gefährden sie nachhaltig deren gesamte eigenständige Lebensgestaltung, die sich häufig erst im Aufbau befindet. Eine solche Einwirkung auf volljährig gewordene Kinder widerspricht einem Verhalten, wie es § 1618 a BGB für die gegenseitige Beziehung von Eltern und Kindern vorschreibt, und ist auch mit den allgemein anerkannten Anschauungen zur Verantwortung der Eltern ihren erwachsenen Kindern gegenüber grundsätzlich unvereinbar.

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Die Klägerin war bei Vertragsschluß nicht in der Lage, eine Verbindlichkeit von 100.000 DM zuzüglich Zinsen jemals zu tilgen. Sie verdiente lediglich ca. 1.150 DM monatlich als ungelernte Arbeiterin. Anhaltspunkte dafür, daß sich ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse in Zukunft möglicherweise grundlegend verbessern, sind nicht vorgetragen. Die damals 21 Jahre alte Klägerin war auch geschäftsunerfahren. Sie war nach dem Hauptschulabschluß längere Zeit arbeitslos gewesen, hatte lediglich im Büro ihres Vaters vorübergehend Schreibarbeiten erledigt und erst kurz zuvor eine Stellung als Arbeiterin in einer Fischfabrik angenommen. Eigenen Belangen der Klägerin diente die Kreditgewährung unstreitig nicht. Vielmehr handelte der Vater ausschließlich in Verfolgung seiner eigenen wirtschaftlichen Interessen. Auch das Risiko, das er seiner Tochter zumutete, war selbst dann, wenn er sich damals in guten Vermögensverhältnissen befand, nicht vernachlässigbar gering; denn er hatte im Zusammenhang mit der Errichtung eines Mehrfamilienhauses weitere Verbindlichkeiten in Höhe von etwa 2, 5 Mio DM bei der Beklagten.

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c) Die genannten Umstände kennzeichnen zwar in erster Linie ein sittenwidriges Handeln im Verhältnis zwischen Hauptschuldner und Bürgen. Sie bleiben jedoch nicht ohne Einfluß auf die Rechtsbeziehung des Bürgen zur Gläubigerbank. Zwar ist es dieser nicht zuzumuten, im Einzelfall aufzuklären, ob der Bürge tatsächlich in seiner freien Entscheidung beeinträchtigt ist, insbesondere, ob und in welcher Weise die Eltern Druck auf ihre Kinder ausgeübt haben. Die geschilderte Gefahr, in die der Bürge in solchen Fällen häufig gerät, hat jedoch Auswirkungen auf die Anforderungen an das Verhalten der Bank, wenn es darum geht, welche Sicherheiten sie von dem Kreditnehmer verlangt und akzeptiert. Benötigt die Bank nach ihrer Auffassung für ein beantragtes Darlehen eine Sicherheit und macht sie deshalb die Auszahlung davon abhängig, daß der Kunde die Bürgschaft seines Kindes in einem Umfang beibringt, der dessen finanzielle Leistungsfähigkeit voraussichtlich bei weitem übersteigt, stellt sich zwangsläufig die Frage, ob der Gläubigerin die sittlich und rechtlich zu mißbilligende Einflußnahme des Hauptschuldners auf den Bürgen bekannt war oder sie sich einer solchen Erkenntnis bewußt verschlossen hat. Trifft dies zu, ist dem Kreditinstitut das gegen § 1618 a BGB verstoßende Verhalten des Darlehensnehmers zuzurechnen. Dies rechtfertigt es regelmäßig, die Bürgschaft selbst als sittenwidrig anzusehen. Die Bank darf daher grundsätzlich nicht an ihren Kunden mit dem Ansinnen herantreten, ihr als Sicherheit die Bürgschaft eines Kindes zu geben, das noch geschäftsunerfahren ist, an der Gewährung des Kredits kein eigenes Interesse hat und bei Eintritt des Risikos voraussichtlich auf längere Zeit nicht in der Lage sein wird, die gesicherte Verbindlichkeit zu tilgen. Soweit der Senat in früheren Urteilen den hier dargelegten Gefahren für die Entscheidungsfreiheit des Bürgen und den daraus folgenden Pflichten der Bank keine entsprechende Bedeutung beigemessen hat (BGHZ 106, 269, 272 [BGH 19.01.1989 - IX ZR 124/88]; Urt. v. 16. Mai 1991 - IX ZR 245/90, NJW 1991, 2015, 2017), wird an dieser Auffassung nicht mehr festgehalten.

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Die Beklagte hat den Kontoinhaber aufgefordert, die Bürgschaft seiner Tochter in Höhe von 100.000 DM beizubringen. Eigene Interessen der Klägerin waren dabei nicht im Spiel. Deren wirtschaftliche Überforderung drängte sich der Beklagten auf, wenn sie ihr nicht sogar positiv bekannt war; denn sie konnte nicht ernsthaft annehmen, die Klägerin werde in der Lage sein, gegebenenfalls 100.000 DM zuzüglich aller aufgelaufenen Zinsen in absehbarer Zeit zu tilgen. Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, daß junge Erwachsene, die sich noch in der Ausbildung oder erst am Anfang ihrer beruflichen Entwicklung befinden, nicht über erhebliches Vermögen oder weit überdurchschnittliche Einkünfte verfügen, sofern nicht konkrete Tatsachen auf das Gegenteil hindeuten. Dies gilt insbesondere dann, wenn schon die Eltern der Bank keine anderweitigen Sicherheiten bieten können und gerade deshalb auf die Bürgschaft des Kindes angewiesen sind, um den begehrten Kredit zu erhalten. Danach drängte sich der Beklagten die Erkenntnis auf, daß die Klägerin aus Unerfahrenheit eine Verpflichtung einging, die sie bei Eintritt des Risikos finanziell völlig überforderte.

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Es entspricht zudem banküblicher Gepflogenheit, die Sicherheiten, von deren Leistung die Auszahlung des Darlehens abhängig sein soll, auf ihre Werthaltigkeit zu überprüfen; denn ohne entsprechende Feststellungen kann die Sicherungsabrede ihren wirtschaftlichen Zweck regelmäßig nicht erfüllen. Hat die Bank dagegen bei Kindern des Hauptschuldners, die eine sehr hohe Bürgschaft erteilen, von entsprechenden Nachforschungen abgesehen, läßt dies regelmäßig nur die Deutung zu, daß ihr entweder die finanziellen Verhältnisse des Bürgen ohnehin bekannt waren oder sie sich der Erkenntnis, welchen Wert die Sicherheit bietet, bewußt verschlossen hat.

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6. Das Kreditinstitut wirkt selbst in unzulässiger Weise auf die Entschließung des Bürgen ein, wenn es durch seine Angestellten die Tragweite der Bürgschaft verharmlost, insbesondere die Unterschrift als reine Formalität darstellt (vgl. BGH, Urt. v. 24. November 1992 - XI ZR 98/92, ZIP 1993, 26, 28). Ein solches Verhalten vermag gerade bei einem geschäftsunerfahrenen Bürgen, der dem Hauptschuldner zudem verwandtschaftlich eng verbunden ist, den Eindruck zu erwecken, er habe nichts Ernsthaftes zu befürchten, und ihn so davon abzuhalten, sich näher mit dem Inhalt der vorgelegten Urkunde zu befassen. Das, was der Bankangestellte Sch. zu Bedeutung und Umfang der Bürgschaft erklärte, bevor die Klägerin das Formular unterzeichnete, war geeignet, ihr das Risiko der Haftung und die damit für die gesamte weitere Lebensgestaltung verbundenen Gefahren zu verschleiern. Dieses Verhalten beeinträchtigte die Klägerin in ihrer Freiheit, sachlich und abgewogen zu entscheiden, schwerwiegend.

23

a) Das Berufungsgericht nimmt an, die Beklagte habe der Klägerin gegenüber die Bürgenhaftung bagatellisiert, ja geradezu verniedlicht, und sie daher in unzulässiger Weise in ihrer Willensbestimmung beeinflußt. Diese Würdigung hält den Angriffen der Revision stand.

24

aa) Der Vater der Klägerin hat vor dem Landgericht als Zeuge bekundet, der Angestellte Sch. der Beklagten habe seiner Tochter vor der Unterschrift dem Sinne nach erklärt: "Hier bitte, unterschreiben Sie mal, Sie gehen dabei keine große Verpflichtung ein, ich brauche das für meine Akten". Diese Aussage hat das Berufungsgericht als glaubhaft behandelt, ohne den Zeugen erneut zu vernehmen. Darin liegt entgegen der Meinung der Revision kein Verfahrensfehler.

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Nach § 398 Abs. 1 ZPO steht es im Ermessen des Prozeßgerichts, ob es die Vernehmung eines Zeugen wiederholt. Dazu verpflichtet ist es nur bei Vorliegen besonderer Umstände, etwa wenn das Berufungsgericht die Aussage anders als das Erstgericht verstehen (BGH, Urt. v. 3. April 1984 - VI ZR 195/82, NJW 1984, 2629; v. 30. September 1992 - VIII ZR 196/91, WM 1992, 2104, 2107) oder die Glaubwürdigkeit eines Zeugen abweichend würdigen will (BGH, Urt. v. 14. Oktober 1981 - IVa ZR 152/80, NJW 1982, 1052, 1053). Allein deshalb, weil die Glaubwürdigkeit des Zeugen für die Entscheidung erheblich ist, braucht das Berufungsgericht keine erneute Vernehmung anzuordnen. Anderenfalls bliebe für die Ausübung des Ermessens überhaupt kein Raum; denn die Glaubwürdigkeit eines Zeugen ist in aller Regel von Bedeutung (BGH, Urt. v. 20. Oktober 1987 - X ZR 49/86, NJW 1988, 484, 485). Dem Berufungsgericht ist es daher grundsätzlich nicht versagt, die Aussage eines Zeugen, die der erstinstanzliche Richter nicht gewürdigt hat, für glaubhaft zu erachten (BGH, Urt. v. 28. Oktober 1987 - I ZR 164/85. BGHR ZPO § 398 Abs. 1 Ermessen 6).

26

Das Landgericht hat die Aussage des Zeugen A. nur unter dem rechtlichen Gesichtspunkt beurteilt, ob sie geeignet sei, dafür Beweis zu erbringen, daß die Bürgschaft ein Scheingeschäft darstellte, und hat diese Frage verneint. Zweifel an der persönlichen Glaubwürdigkeit des Zeugen hat es nicht geäußert, vielmehr dessen Aussage ohne Vorbehalt der rechtlichen Bewertung zugrunde gelegt. Danach war das Berufungsgericht, das die Aussage inhaltlich nicht anders versteht, rechtlich nicht gehindert, sie ohne erneute Vernehmung als glaubhaft anzusehen.

27

bb) Daß das Berufungsgericht davon abgesehen hat, den von der Beklagten benannten Zeugen E. zu vernehmen, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Beklagte hatte in das Wissen dieses Zeugen lediglich die Behauptung gestellt, ihr Angestellter Sch. sei ein zuverlässiger und sehr gewissenhafter Mitarbeiter gewesen. Dieser Beweisantrag war ungeeignet; denn solche allgemeinen Charakterisierungen einer Person sagen in aller Regel nichts darüber aus, wie sie sich in einer ganz bestimmten Situation tatsächlich verhalten hat.

28

cc) Das Berufungsgericht meint, der Angestellte der Beklagten habe sowohl den Umfang des Risikos als auch das Ausmaß der Haftung heruntergespielt. Seine Äußerung sei daher geeignet gewesen, der Klägerin den Eindruck zu vermitteln, ihr könne im Ergebnis nicht viel zustoßen. Diese Auffassung beruht auf einer - grundsätzlich dem Tatrichter vorbehaltenen - Auslegung der Erklärung und ist vom Revisionsgericht nur daraufhin zu überprüfen, ob sie gesetzliche Auslegungsregeln, Denkgesetze, Erfahrungssätze oder Verfahrensvorschriften verletzt (st.Rspr.: vgl. BGH, Urt. v. 25. Februar 1992 - X ZR 88/90, NJW 1992, 1967, 1968). Ein solcher Fehler ist entgegen der vom Senat im Urteil vom 16. März 1989 (aaO) vertretenen Auffassung zu verneinen.

29

Erklärt der Gläubiger bei Bürgschaftsverhandlungen, die ganze Angelegenheit sei eine Formsache, so mag es sich dabei häufig für die Beteiligten erkennbar nur um eine allgemeine Redensart ohne inhaltliche Aussage über Umfang und Bedeutung des Risikos handeln (vgl. BGH, Urt. v. 5. Januar 1955 - IV ZR 112/54, WM 1955, 375). Die Erklärungen des Angestellten der Beklagten gingen indessen über eine solche Äußerung erheblich hinaus. Gerade die Verbindung des Hinweises, es handele sich um keine große Verpflichtung, mit dem Zusatz, die Erklärung werde für die Akten benötigt, konnte beim Adressaten den falschen Eindruck erwecken, bei der gewünschten Bürgschaft handele es sich im wesentlichen um eine Formalie. Die Erklärung des Angestellten Sch. war inhaltlich auch nicht so eindeutig, daß die Klägerin sie ohne weiteres als bloßen Hinweis auf die Bonität ihres Vaters verstehen mußte. Das Berufungsgericht berücksichtigt zudem, daß die Klägerin damals keinerlei Erfahrung in Bankgeschäften besaß, stellt also zutreffend auf den Empfängerhorizont ab.

30

b) In Anbetracht der Gesamtumstände des Streitfalls war es zudem selbst dann, wenn damals die Bonität des Vaters günstig zu beurteilen war, besonders verwerflich, der Klägerin gegenüber das Bürgenrisiko in solcher Weise zu verharmlosen.

31

aa) Unstreitig sollte die Klägerin die Bürgschaft leisten, damit der Kreditrahmen auf dem Kontokorrentkonto des Vaters von 50.000 auf 100.000 DM erweitert werden konnte. Deshalb wurde die Haftung der Höhe nach auf 100.000 DM - zuzüglich Zinsen und Kosten - begrenzt. Da die Bürgschaft sich indessen nach dem formularmäßigen Inhalt der Urkunde auf alle Forderungen der Beklagten aus der bankmäßigen Geschäftsverbindung mit dem Vater der Klägerin bezog, sicherte sie in dem genannten Umfang auch die Darlehensverbindlichkeit über damals 2, 5 Mio DM aus dem Bauprojekt. Damit war das von der Klägerin eingegangene Risiko sofort weit höher, als es allein mit Blick auf den erweiterten Kontokorrentkredit erscheinen mochte. Unstreitig kam jene außerordentlich hohe Forderung der Beklagten nicht zur Sprache, als der Klägerin das Bürgschaftsformular vorgelegt wurde.

32

bb) Dazu befand sich die Klägerin durch die Anwesenheit des Vaters, der sie in der Absicht, infolge ihrer Unterschrift den begehrten Kredit zu erhalten, zur Sparkasse begleitet hatte, ohnehin in einer Lage, die es ihr besonders erschwerte, vernünftig und abgewogen zu entscheiden.

33

cc) Die Beklagte hat nicht behauptet, damals mit einer Vermögensübertragung vom Kreditnehmer auf die Klägerin gerechnet und auch deshalb die Bürgschaft gefordert zu haben. Schon im Hinblick auf die Höhe des zu jener Zeit insgesamt gewährten Darlehens können solche Erwägungen keine Rolle gespielt haben. Es braucht daher hier nicht entschieden zu werden, ob solche Umstände überhaupt dazu führen könnten, Erklärungen, die das Haftungsrisiko in der hier geschehenen Weise bagatellisieren, bei der Gesamtabwägung nach § 138 Abs. 1 BGB eine geringere Bedeutung beizumessen.

34

c) Die Bank hat die unzulässige Einflußnahme ihres Angestellten auf die Willensbestimmung der Klägerin nach § 278 BGB zu vertreten. Im übrigen gilt für die nach § 138 Abs. 1 BGB erforderlichen subjektiven Merkmale das oben (5 c) Gesagte entsprechend. Die festgestellten Umstände rechtfertigen die Vermutung, daß die Klägerin die Bürgschaft infolge der entstandenen psychischen Zwangslage unterzeichnet hat. Ob dazu schon das Verhalten des Vaters ausreichte, oder die bagatellisierenden Erklärungen des Sparkassenangestellten mitursächlich wurden, kann dahingestellt bleiben, weil der Beklagten beide Verhaltensweisen im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB zuzurechnen sind (vgl. zum subjektiven Tatbestand auch BGH, Urt. v. 14. Juni 1984 - III ZR 81/83, NJW 1984, 2292, 2294; v. 10. Juli 1986 - III ZR 133/85, NJW 1986, 2564, 2565).

35

7. Die dargestellten Umstände führen jedenfalls in ihrer Gesamtheit dazu, daß der Bürgschaftsvertrag nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig ist. Daher war die Revision der Beklagten, mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO, zurückzuweisen.