Hochsensible Pferde: Herausforderung für Reiter und Trainer

Profi-Tipps von Yvonne Gutsche
Feingefühl für feine Wesen

Vierbeinige Sensibelchen können hervorragende Reitpferde und Partner sein. Doch wenn diese Tiere mit den einfachsten Dingen überfordert sind, hört der Spaß auf. Wie Sie ein hochsensibles Pferd erkennen, was dahintersteckt und wie Sie damit umgehen.

CAVALLO hochsensible Pferde
Foto: Lisa Rädlein

Ein sensibles Pferd ist ein Traum!

Es ist aufmerksam und reagiert fein auf die Hilfen des Reiters. Doch wenn das Sensibelchen so empfindlich ist, dass bereits alltägliche Dinge wie das Betreten der Box sich zu einem kleinen Drama entwickeln, sind Mensch und Tier überhaupt nicht glücklich, sondern am Rande der Verzweiflung.

Hochsensible Pferde, die bei jeder Kleinigkeit eskalieren, gibt es laut Ausbilderin Yvonne Gutsche immer mehr: "Ich bekomme durchschnittlich alle sechs bis acht Wochen ein Pferd zum Anreiten, das eine übermäßig ausgeprägte Sensibilität hat", berichtet die 43-Jährige, die seit vielen Jahren auf ihrem Hof im baden-württembergischen Bad Wimpfen Pferde trainiert und dabei ein besonderes Händchen für vierbeinige Problemfälle entwickelt hat.

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CAVALLO hochsensible Pferde
Lisa Rädlein

Stute Unica reagiert auf jeden Reiz extrem. Nur mit viel Zeit und Geduld kann sie sich ein wenig entspannen.

Schon Kleinigkeiten bringen die Pferde aus der Fassung

Hochsensible Pferde sind eine besondere Herausforderung, weiß Yvonne Gutsche. "Sobald sich irgendetwas im Umfeld verändert, stehen diese Pferde völlig unter Strom, sind total gestresst, und sie reagieren sehr viel sensibler auf Reize wie Geräusche, Licht, Berührungen, aber auch auf die Gefühle anderer Pferde sowie Menschen", berichtet die Trainerin. Nur mit extrem viel Zeit und Geduld könne sie gemeinsam mit ihrem Team solch hochsensible Wesen zum Reitpferd ausbilden. "Normalerweise brauchen wir drei bis vier Monate, um Jungpferde solide anzureiten", sagt Gutsche. "Bei hochsensiblen Pferden benötigen wir diesen Zeitraum, um überhaupt das erste Mal aufzusteigen zu können, ohne dass das Pferd in Panik ausbricht und unkontrollierbar wird." Bei extrem Hochsensiblen hat die Trainerin manchmal gar keine Chance: "Weil diese Pferde gar nicht auf den Menschen achten, können sie richtig gefährlich werden. Das hat mit mangelnder Erziehung oder ähnlichem Problemverhalten leider gar nichts zu tun. Hochsensible Pferde sind eine völlig andere Welt."

Yvonne Gutsche holt ihr Handy aus der Tasche, um uns ein Video von einem Berittpferd zu zeigen: Zu sehen ist ein zunächst brav in der Reithalle stehendes, gesatteltes Pferd. Die Trainerin ruckelt am Steigbügel, dann schlägt sie ihn über den Sattel auf die andere Seite. Diese Übung macht sie mit jedem Pferd vor dem Anreiten – zur Desensibilisierung. Das Pferd im Video bleibt dabei ganz ruhig stehen. Es kennt den Sattel sowie die Übung bereits. Als Gutsche danach das Pferd am Kopf berühren will, flippt es plötzlich völlig aus: Es bockt an der Longe wild durch die Halle. Bei jedem Sprung reißt es die Vorderbeine hoch in die Luft und schlägt damit mehrfach nach vorne. "Das Pferd war total emotional und ist innerlich förmlich explodiert", berichtet die Trainerin. Um sicher zu gehen, dass das Pferd keine gesundheitlichen Probleme hat, die für dieses Verhalten verantwortlich sind, ließ Yvonne Gutsche das Pferd in einer Klinik durchchecken. "Aber das Tier war gesund", sagt sie. Solch ein Verhalten überfordert verständlicherweise nicht nur viele Pferdebesitzer, sondern auch Stallbetreiber sowie Trainer. Nicht selten werden hochsensible Pferde daher zum Wanderpokal, weil sie ihr Umfeld in den Wahnsinn treiben oder Menschen verletzen. "Ob beim Misten, Putzen oder im Training, aus Eigenschutz setze ich bei extrem hochsensiblen Pferden meinen Helm nicht mehr ab", berichtet Yvonne Gutsche.

Keine Krankheit, sondern Teil der Persönlichkeit

Was hat es mit diesem Verhalten auf sich? Hochsensibilität bei Pferden ist noch so gut wie gar nicht erforscht, und auch mehrere Pferdeverhaltensexperten, die wir für diesen Artikel angefragt haben, konnten uns dazu nichts sagen. Ein spannendes neues Forschungsgebiet, findet Wissenschaftlerin Dr. Mélissa Peignier vom Schweizer Nationalgestüt in Avenches, die nun etwas bewegen möchte. Ihr Ziel ist es, einen Fragebogen zu entwickeln, mit dessen Hilfe jeder Reiter die Sensibilität seines Pferdes beurteilen kann. "Der Fragebogen wird voraussichtlich Ende des Jahres fertig sein", sagt Mélissa Peignier. Für den Menschen gibt es solche speziellen Fragebögen bereits (beispielsweise unter hsperson.com, in englischer Sprache). Denn die Hochsensibilität beim Menschen ist immerhin bereits ansatzweise erforscht. Sie wird weder als Krankheit noch als Störung definiert. "Es handelt sich dabei um ein Persönlichkeitsmerkmal", sagt Dr. Mélissa Peignier. "Für einen Reiter, der zuvor noch nie mit solch einem Pferd zu tun hatte, könnte dieser Fragebogen eine echte Hilfe sein", betont Trainerin Yvonne Gutsche. Sie selbst sammelt täglich Erfahrungen mit hochsensiblen Pferden und hat uns mehrere Verhaltensweisen beschrieben, die für Hochsensible ihrer Meinung nach typisch sind.

Die andere Wahrnehmung ist möglicherweise angeboren

Warum manche Pferde hochsensibel sind und andere weniger Feingefühl besitzen, ist noch völlig unklar. Die Forschung steckt auch hier noch in den Kinderschuhen. Beim Menschen wird vermutet, dass Hochsensible eine angeborene, veränderte Wahrnehmungsschwelle haben. Zum anderen könnte auch eine spezielle Reizempfindlichkeit eine Rolle spielen: Menschen sind womöglich durch negative Erfahrungen achtsamer gegenüber Umweltreizen und nehmen diese entsprechend frühzeitiger wahr. Ein Beispiel: Personen, die gelernt haben, dass laute Geräusche ihnen nicht guttun, reagieren vielleicht bereits auf Musik in Zimmerlautstärke empfindlich. Auch über eine besondere Reizverarbeitung wird beim Menschen geforscht. Normalerweise filtert das Gehirn, welche Reize in einer Situation wichtig sind, die anderen blendet es aus. Bei Hochsensiblen fehlt diese Filterfunktion vermutlich. Dazu kommt, dass sie nicht nur Reize in der Umgebung, sondern auch die Gefühle ihrer Mitmenschen sehr stark wahrnehmen. Dadurch können selbst Alltagssituationen wie das Einkaufen im Supermarkt zur Erschöpfung führen.

Darüber hinaus geht die Wissenschaft davon aus, dass an der Hochsensibilität ebenso Umwelteinflüsse beteiligt sind. "Pferde können lernen, auf bestimmte Reize, wie die reiterlichen Hilfen, immer sensibler zu reagieren. Auch einen bedrohlichen Reiz, wie ein Geräusch oder eine Bewegung, die Leid nach sich zieht, erkennen sie irgendwann immer früher und sind dann in Alarmbereitschaft", sagt Verhaltensexpertin Dr. Vivian Gabor (ivk-center.de). Welche Faktoren genau daran beteiligt sind, ist jedoch noch unklar. Bei den Pferden, die Yvonne Gutsche kennt, handelt es sich überwiegend um Jungtiere, die direkt von der Koppel des Züchters zur Trainerin kamen. Diese Pferde hatten also zuvor noch so gut wie keinen Kontakt zum Menschen und haben dementsprechend auch keine schlechten Erfahrungen sammeln können.

"Wahrscheinlich spielen auch die Gene eine Rolle", vermutet Dr. Mélissa Peignier vom Schweizer Nationalgestüt. Dass sich am Erbgut eines Pferds grundsätzlich die Persönlichkeit ablesen lässt, haben japanische Forscher bereits herausgefunden. Könnte die Sensibilität dementsprechend auch von der Rasse abhängig sein? "Gerade unter den Warmblütern, die für den Sport gezüchtet werden, bevorzugen wir ja die sehr sensiblen Pferde", sagt Dr. Vivian Gabor. "Oder bei den Quarter Horses, die einen ausgeprägten Cow-Sense haben und dementsprechend Bewegungen sensibler wahrnehmen." Yvonne Gutsche berichtet ebenfalls von Warmblütern, aber auch von Freibergern sowie Isländern, die eine ausgeprägte Sensibilität haben. "Ich glaube, die Hochsensibilität betrifft nicht bestimmte Rassen, aber durchaus manche Vererber-Linien", sagt die Trainerin. "Von einem einzigen Züchter weiß ich, dass er die Hengste, deren Nachkommen auffällig waren, aus der Zucht genommen hat", berichtet die Trainerin. "Das finde ich sehr verantwortungsvoll."

Hat die Hochsensibilität auch Vorteile?

Jeder, der schon mal mit einem hochsensiblen Pferd zu tun hatte, weiß, wie anstrengend der Alltag sein kann. Aber gibt es vielleicht auch einen Pluspunkt, den diese Pferde durch ihre übermäßige Sensibilität haben? Hochsensible Menschen etwa können nicht nur negative, sondern auch positive Momente intensiver wahrnehmen und sind empfänglicher für schöne Dinge. Unter den richtigen Umständen können sie sogar ihre Stärken entfalten: musisches Talent, Einfühlungsvermögen oder einen scharfen Blick für Details. Wie ist das bei Pferden? "Ich habe leider noch keinen Vorteil, weder fürs Pferd noch für den Besitzer oder Trainer, feststellen können”, so Yvonne Gutsche. Es scheitere oft bereits an den äußeren Gegebenheiten: "Alleine schon einen passenden Stall für solche Pferde zu finden, wo sie gut zur Ruhe kommen können, ist oft sehr schwierig." Dr. Vivian Gabor sieht das ähnlich: "Wer beim Pferd nach Erholung sucht, wird mit einem hochsensiblen Tier an seine Grenzen geraten.” Denn der Mensch müsse fürs Pferd ein bisschen wie ein Psychologe sein und Stück für Stück den Komfortbereich erweitern. "Das schafft oft nur ein professioneller Ausbilder", so die Pferdewissenschaftlerin.

CAVALLO hochsensible Pferde
Lisa Rädlein

Die Trainerin möchte Unica nur über den Hals streichen, doch bereits das ist für die hochsensible Stute schwer zu ertragen.

Ist mein Pferd hochsensibel?

Pferdetrainerin Yvonne Gutsche hat eine Gemeinsamkeit bei allen hochsensiblen Pferden bemerkt, die sie bislang im Training hatte: das Verhalten der Tiere, wenn jemand die Box oder den Paddock betritt. "Normalerweise lassen sich Pferde dadurch nicht aus der Ruhe bringen", sagt die Trainerin. "Etwas sensiblere Pferde zeigen hin und wieder Überreaktionen, aber hochsensible Pferde sind immer gestresst: Entweder sind sie total ängstlich, weichen zurück und schnaufen oder sie greifen plötzlich den Menschen an", berichtet Yvonne Gutsche. "Diese Reaktion zeigen sie jedes Mal. Es tritt keine Gewöhnung ein."

CAVALLO hochsensible Pferde
Lisa Rädlein

Obwohl Trainerin und Pferd sich gut kennen, reagiert die Stute immer wieder skeptisch, wie ihr Ohrenspiel zeigt.

Weitere Anzeichen (nicht alle Merkmale müssen zutreffen):

• Das Pferd steht ständig unter Strom und kommt nicht zur Ruhe.

• Das Pferd hat Angst vor der Reithalle und gewöhnt sich nicht daran.

• Das Pferd nimmt selbst kleinste Veränderungen in seiner Umwelt direkt wahr und reagiert darauf oft sehr heftig.

• Das Pferd ist schnell unkonzentriert und unruhig.

• Das Pferd ist kognitiv schnell müde.

• Das Pferd hat öfter weichen Kot oder sogar Durchfall (Stress schlägt auf den Darm).

Hier stellt Yvonne Gutsche ihre Sensibelchen in kurzen Videos vor:

Hier können Sie die Trainingsvideos anschauen:

Die Expertin

CAVALLO hochsensible Pferde
Lisa Rädlein

Yvonne Gutsche ist Pferdetrainerin aus Bad Wimpfen/Baden-Württemberg, bildet seit über 25 Jahren Pferde aus und hat sich auf besonders schwierige Tiere spezialisiert. (www.yvonne-gutsche.de)