Anatomisches Zaumzeug: Vorteile und Nachteile

Anatomisches Zaumzeug: Vorteile und Nachteile
Bequem am Kopf

Ein anatomischer Zaum soll Druck an empfindlichen Stellen vermeiden. Doch die Anatomie unterschiedlicher Pferdeköpfe beeinflusst dieses Ziel stark.

Anatomische Zäume
Foto: Lisa Rädlein

Welcher Zaum passt welchem Pferd?

Das Fazit unseres Tests vorab: Für größere und breite Pferdeköpfe passt ein Zaum mit breitem Genickstück wie bei Bauart 1 (siehe unten) gut. An schmaleren Köpfen sitzt der filigranere Zaum nach Bauart 2 (siehe unten) besser. Einen gemeinsamen Schwachpunkt hatten beide Modelle: Die Stirnriemen waren zu kurz. Mit der Standard-Warmblutgröße kommt nur die große Warmblutstute klar. Also vor dem Zaum-Kauf unbedingt anprobieren oder beim Hersteller vorab die Maße erfragen.

Unsere Highlights

Klassischer Zaum zum Vergleich

Zu den klassischen Trensenzäumen gehören das englische, das schwedische, das hannoveranische und das mexikanische Reithalfter. Hier das englisch kombinierte Reithalfter.

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Lisa Rädlein
Zaum klassisch
  1. Ein bis zwei Fingerbreit unter dem Jochbein sitzt der Nasenriemen. Zwei Finger müssen zwischen Riemen und Pferdenase passen.
  2. Die Backenstücke verlaufen unter der Jochbeinleiste.
  3. Trotz Sperrriemen muss das Pferd noch kauen können.
  4. Zwischen Pferdekopf und Kehlriemen passt eine Faust.

Anatomischer Zaum, Bauart 1: Entlastung im Genickbereich

Bei dieser Bauart liegt der Fokus vor allem auf der Ohrenfreiheit und einer besseren Druckverteilung im Genickbereich. Deshalb ist das Genickstück besonders breit und dick gepolstert. Dieser anatomische Zaum hat gerade verlaufende Backenstücke. Der Nasenriemen ist breit und weich unterlegt.

  1. Das breite Genickstück hat einen Ohrenausschnitt und ist dick gepolstert.
  2. Die Backenstücke sitzen unterhalb des Jochbeins.
  3. Bei diesem Zaum ist zusätzlich ein Ganaschenriemen angebracht. Andere Modelle verfügen stattdessen über einen Kehlriemen.
  4. Der untere Teil des Nasenriemens ist weich gepolstert.
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Beispiel-Zaum Bauart 1: Stübben „Freedom“

Beispiel-Zaum: Stübben "Freedom" mit abnehmbaren Sperrriemen, Größen: Pony, VB, WB, Preis: 449 Euro (Stübben "Freedom" hier kaufen)

Weitere bauartähnliche Zäume:

Anatomischer Zaum, Bauart 2: Entlastung im Nasenbereich

Anatomische Trensenzäume dieser Bauart sind so konzipiert, dass vor allem im Bereich der Backenzähne und der Nerven im Nasen- und Kinnbereich kein Druck entsteht.

  1. Die Position des Nasenriemens vermeidet Druck auf Nase, Nerven und Backenzähne.
  2. Der untere Riemen wirkt wie ein Sperrriemen.
  3. Die Backenstücke verlaufen unterhalb des Jochbeins.
  4. Das anatomisch geformte Genickstück verteilt den Druck gleichmäßig. Zäume dieser Art gibt es auch mit abnehmbarem Sperrriemen, meist mit zusätzlichem Kehlriemen.
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Beispiel-Zaum Bauart 2: Horseware „Micklem“

Beispiel-Zaum:

Horseware "Micklem" (siehe Bild), Größen: Pony, WB klein, WB Standard, WB groß, Preis: 202,95 Euro (Horseware "Micklem Multi" auch als Kappzaum verwendbar hier kaufen)

Weitere bauartähnliche Zäume:

Wo es am Pferdeschädel nicht drücken darf

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Johanna Probst
Wo es am Pferdeschädel nicht drücken darf

Am Pferdeschädel wird deutlich, welche Stellen besonders druckempfindlich und somit relevant bei der Anpassung von anatomischen Zaumzeug sind. Der Stirnriemen liegt nahe an den Kiefergelenken. Deshalb darf dieser nicht zu eng oder zu tief sitzen. Die Jochbeinleiste (Crista facialis) verläuft zwischen Auge und Oberkiefer und ist bei manchen Pferden mehr, bei anderen weniger stark sichtbar. Da das Jochbein ähnlich wie das menschliche Schienbein nur durch die Pferdehaut geschützt ist, darf hier kein Druck entstehen.

Direkt unter der Haut liegt auch das zum Ende hin sich sehr stark verjüngende Nasenbein, auf dem der Nasenriemen aufliegt. Der Bereich der Backenzähne (Molaren) am Ober- und Unterkiefer ist sehr empfindlich. Denn zur Außenseite hin können sich an den Zähnen scharfe Kanten bilden, die in die Maulschleimhaut drücken. Zusätzlicher Druck von außen kann für das Pferd dann noch schmerzhafter sein.

Wo die Gesichtsnerven und Blutgefäße verlaufen

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Johanna Probst
Wo die Gesichtsnerven und Blutgefäße verlaufen

Wie diese schematische Zeichnung zeigt, verlaufen im Gesichtsbereich des Pferds direkt unterhalb der Haut Nerven (gelb) und Blutgefäße (rot und blau). Beim konventionellen Zaum (z.B. beim englischen Reithalfter) liegen viele davon direkt unterhalb der Riemen. Der große Gesichtsnerv (Nervus facialis) verläuft unterhalb des Kiefergelenks bis zur Nase. Von dort führen Nervenäste zum Ohr und zum Auge sowie über die Wange.

Unterhalb des Unterkiefers Richtung Nase verläuft der Trigeminusnerv (Nervus trigeminus), der aus dem Schädel an einem Punkt austritt, worüber der Nasenriemen eines englischen Reithalfters liegt. Der Kinnnerv (Nervus mentalis) am Unterkiefer befindet sich im Bereich des Sperrriemens. Blutgefäße befinden sich am ganzen Kopf unter der Haut, unter anderem am Unterkiefer direkt vor den Ganaschen. Dort sollte deshalb kein Riemen sitzen.

Zaum-Wissen aus der Forschung

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Johanna Probst
Zaum-Wissen aus der Forschung

Auf die korrekte Verschnallung kommt es an – auch bei einem anatomischen Zaum. Studien zeigen: Sitzt der Nasenriemen zu eng, werden Gesichtsnerven beeinträchtigt, und sogar die Knochenstruktur am Nasenbein kann sich verändern. Die britischen Wissenschaftler Dr. Rachel Murray und Vanessa Fairfax fanden heraus, dass bei konventionellen Zäumen der meiste Druck vor den Ohren (oberhalb des Stirnriemens) und hinter den Ohren sowie unter dem Nasenriemen entsteht. Ein anatomischer Zaum -bei korrekter Verschnallung- reduzierte die Druckpunktspitzen um bis zu 84 Prozent und führte dazu, dass sich die Pferde messbar freier bewegten.

Wie gut sitzen anatomische Zäume an unterschiedlichen Pferdeköpfen? Wir bitten vier Pferde zur Anprobe. Zwei Muster-Modelle stehen für zwei unterschiedliche Bauarten.

Passform-Check zierliches Warmblut

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Lisa Rädlein
Deutsches Sportpferd, Wallach, Stockmaß 1,67 Meter

Zaum nach Bauart 1 (Stübben "Freedom") Herkules hat einen eleganten Kopf mit schmaler Nase, aber sehr breiten Ganaschen. Gemeinsam mit Pferdedentistin und Bitfitterin Dr. Johanna Probst probieren wir daher den Zaum zunächst in Vollblut-Größe an. In ihrer Praxis hat die Expertin häufig mit schlecht sitzenden Zäumen zu tun. Deshalb hat sie sich darauf spezialisiert, Pferdebesitzer zu beraten, wie sie Gebisse und Zäume korrekt anpassen. Nun schaut die Fachfrau kritisch: "Der Nasenriemen müsste tiefer sitzen, aber das kann ich nicht korrekt einstellen." Also greifen wir zur Warmblut-Größe. Nun lässt sich der Zaum problemlos anpassen. Der Pferdedentistin gefällt, dass die Backenriemen weit unterhalb des Jochbeins liegen. Der Nasenriemen ist im Kinnbereich, wo viele Nerven und Gefäße zusammenlaufen, dick gepolstert, "das fehlt leider bei manchen Zäumen", betont sie. Am Stirnriemen findet sie die dicke Polsterung eher störend.

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Am Stirnriemen ist die dicke Polsterung bei diesem Pferd eher störend

Der breite Riemen liegt bei Herkules auf den Kieferknochen auf – vor allem deshalb, weil er zu kurz ist. "So wird auch das Genickstück auf die Ohren gezogen", erklärt die Pferdedentistin.

Zaum nach Bauart 2 (Horseware "Micklem") Der Hersteller empfiehlt die Warmblut-Größe "Standard" für Pferde ab 1,47 bis 1,70 Meter Stockmaß. Damit müsste diese Größe für Herkules passend sein. Doch auch hier ist der Stirnriemen zu kurz. So drückt er auf die Kiefergelenke und zieht das Genickstück auf die Ohren.

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Der Stirnriemen drückt auf die Kiefergelenke und zieht das Genickstück auf die Ohren

Die Schnallen an den Backenstücken liegen zu nah an den Kiefergelenken und der Nasenriemen sollte etwas höher liegen. Für Herkules wäre der Zaum in Größe Vollblut passender. "Dann müsste aber der Stirnriemen raus oder ein deutlich größerer eingeschnallt werden", so Dr. Probst. Positiv bei diesem anatomischen Zaum: "Der Bereich um die Backenzähne liegt schön frei".

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Positiv bei diesem Zaum: „Der Bereich um die Backenzähne liegt schön frei“

Was passt diesem Pferd? Bauart 2 passt besser. Generell: Zaum mit langem, schmalem Stirnriemen (ab 42 cm), kürzeren Backenriemen (VB) und weich unterlegtem, schmalen Genickstück.

Passform-Check Endmasspony

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Holländisches Reitpony, Stockmaß 1,53 Meter

Zaum nach Bauart 1: Auch bei Ponystute Beauty ist der Stirnriemen in Größe Warmblut zu eng. Das gepolsterte, breite Genickstück ist für das kleine Pferd zu wuchtig und hat die Tendenz, hinter die Ohren zu rutschen.

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Das gepolsterte, breite Genickstück ist für das kleine Pferd zu wuchtig und hat die Tendenz, hinter die Ohren zu rutschen

Damit der Ganaschenriemen mittig auf dem großen Kaumuskel liegt und nicht verrutscht, müsste er eng verschnallt werden.

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Damit der Ganaschenriemen mittig auf dem großen Kaumuskel liegt und nicht verrutscht, müsste er eng verschnallt werden

Rutscht der Ganaschenriemen tiefer, würde er an einer empfindlichen Stelle sitzen, wo Blutgefäße und Nerven verlaufen.

Zaum nach Bauart 2: Auch bei dem anderen Modell in Warmblut-Größe sind Beautys "Problemzonen" sichtbar. Der Ganaschenriemen muss hier noch enger verschnallt werden als beim ersten anatomischen Zaum-Modell, damit er nicht nach unten rutscht.

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Der Ganaschenriemen muss hier noch enger verschnallt werden als beim ersten Zaum-Modell, damit er nicht nach unten rutscht

Die Schnallen der Backenriemen liegen nicht ganz ideal: "Es wäre besser, wenn sie etwas tiefer sitzen würden und nicht so nah am Kiefergelenk", so Dr. Probst. "Wenn es dort drückt, kann das Pferd sich nicht mehr losgelassen bewegen", ergänzt sie. Auch hier wieder das gleiche Problem wie bei dem anderen Zaum: Der Stirnriemen ist zu eng. Dadurch werden die Backenriemen nach oben und vorne gezogen.

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Hinter und unter dem Ohr ist bei diesem Zaum kaum Platz.

Was passt diesem Pferd? Besser: Bauart 2. Generell: Zaum mit langem Stirnriemen (ab 42 cm), kürzeren Backenriemen (VB), ohne Ganaschenriemen und weich unterlegtem, schmalem Genickstück.

Passform-Check Haflinger

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Haflinger, Stute, Stockmaß 1,42 Meter

Zaum nach Bauart 1: Auch Stute Ullala passt der Zaum in Warmblut-Größe besser als in Größe Vollblut. Dr. Johanna Probst weist auf das zweiteilige Genickstück hin. Diese Konstruktion soll dafür sorgen, dass der Atlaswirbel entlastet und der Druck zur Seite verlagert wird. Laut britischer Studie drücken Zäume aber eher seitlich des Nackenbands als auf dem Nackenband in der Genickmitte. Bei Ullala passt dieses Genickstück prima: Ihre üppige Mähne hat darunter genug Platz.

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Bei Ullala passt dieses Genickstück prima: Ihre üppige Mähne hat darunter genug Platz

Uns fällt auf, dass der Backenriemen, an dem das Gebiss verschnallt ist, weiter vom Kopf absteht als beim Zaum der Bauart 2. So kann keine Schnalle drücken.

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Uns fällt auf, dass der Backenriemen, an dem das Gebiss verschnallt ist, weiter vom Kopf absteht

Zaum nach Bauart 2: Der Stirnriemen dieses Zaums in Größe Warmblut ist für die breite Stirn der Haflingerstute zu eng. Er drückt von unten gegen die Ohren, deutlich sichtbar an Ulalas Fell, das sich in diesem Bereich aufstellt.

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Der Stirnriemen drückt von unten gegen die Ohren, deutlich sichtbar an Ulalas Fell, das sich in diesem Bereich aufstellt

Zusätzlich zieht er das Genickstück hinter die Ohren. Bei Ullala liegen die Backenriemen zu nah am Auge und damit auch auf Höhe der Jochbeinleisten, wo sie nicht hingehören. Die Schnallen sitzen direkt am Kiefergelenk. "Vermutlich würde der Zaum diesem Pferd besser passen, wenn der Stirnriemen weiter wäre", meint Dr. Johanna Probst.

Was passt diesem Pferd? Besser: Bauart 1. Generell: Zaum mit langem Stirnriemen (ab 42 cm), kürzeren Backenriemen (VB) und längerem Nasenriemen (WB).

Passform-Check großes Warmblut

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Württemberger Stute, Stockmaß 1,72 Meter

Zaum nach Bauart 1: An der Württemberger-Stute Cara, die einen großen, langen Kopf hat, sitzt dieser Zaum am besten: Der Ganaschenriemen liegt an der richtigen Stelle, vielleicht einen Tick zu weit oben. Auch der im Kinnbereich weich gepolsterte Nasenriemen hat eine gute Position und drückt nicht.

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Auch der im Kinnbereich weich gepolsterte Nasenriemen hat eine gute Position und drückt nicht

Lediglich der Nasenriemen dürfte bei Cara etwas tiefer sitzen. Das lassen die Verschnallmöglichkeiten des Zaums aber nicht zu. Die Backenriemen liegen schön weit unterhalb des Jochbeins. Obwohl Caras Kopf größer wirkt als bei den anderen Pferden, passt der Stirnriemen bei ihr gut.

Zaum nach Bauart 2: Cara trägt bereits einen Zaum dieser Bauart in Größe Warmblut, der ihr gut passt. Ihre Besitzerin hat den Standard-Stirnriemen durch einen größeren ersetzt.

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Cara trägt bereits einen Zaum dieser Bauart in Größe Warmblut, der ihr gut passt. Ihre Besitzerin hat den Standard-Stirnriemen durch einen größeren ersetzt

Als wir Cara den Standard-Zaum mit Original-Stirnriemen in der gleichen Größe anziehen, sehen wir noch einmal deutlich, was der zu enge Stirnriemen ausmacht: Der ganze Zaum wird nach vorne hinter die Ohren gezogen.

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Der ganze Zaum wird durch den zu kurzen Stirnriemen nach vorne hinter die Ohren gezogen

Dadurch ist auch der Ganaschenriemen in der gleichen Einstellung wie bei Caras Zaum nun zu eng und die Backenstücke liegen etwas höher. Weil die Stute einen längeren Kopf hat als die anderen Pferde, sitzen bei ihr die Backenriemen-Schnallen perfekt: weit genug unten, also nicht im Bereich des druckempfindlichen Kiefergelenks.

Was passt diesem Pferd? Beide Bauarten passen gut. Generell: Zaum in Warmblut-Größe mit langem Stirnriemen (ab 42 cm).

Fazit

Für größere und breite Pferdeköpfe passt ein anatomischer Zaum mit breitem Genickstück wie bei Bauart 1 gut. An schmaleren Köpfen sitzt der filigranere Zaum nach Bauart 2 besser. Einen gemeinsamen Schwachpunkt hatten beide Modelle: Die Stirnriemen waren zu kurz. Mit der Standard-Warmblutgröße kommt nur die große Warmblutstute klar. Also vor dem Zaum-Kauf unbedingt anprobieren oder beim Hersteller vorab die Maße erfragen. Am besten wäre es jedoch, wenn Hersteller ihre Zäume gleich im Baukasten-System anbieten würden. So könnte sich jeder Pferdebesitzer den passenden Zaum selbst zusammenstellen.

Die Expertin:

Anatomische Zäume
Lisa Rädlein

Dr. sc. Johanna Probst ist Pferdedentistin und Bitfitterin. Sie lehrt, wie Zäume korrekt sitzen. www.proross.de