Was gibt's da zu sehen :
Ruppige Umarmungen beim Judo

Lesezeit: 2 Min.
Ist es um das Gleichgewicht erst einmal geschehen, folgen oft erstaunliche Verschlingungen. Hier in einem Viertelfinale der Herren bis 66 kg in Paris am Sonntag.
Sie liegen sich in den Armen und betten einander zu Boden: Wer zum ersten Mal olympischen Judokas beim Kampf zusieht, ist überrascht von so viel Intimität.

Da stehen sich zwei Männer mit strengem Blick gegenüber, einer im blauen, einer im weißen Anzug, sie gehen aufeinander zu, greifen nach den Händen, greifen nach dem Kleidersaum des anderen, liegen einander in den Armen, ziehen sich zueinander hin, noch ein wenig fester, die Oberkörper vorgebeugt, die Füße rastlos, ein unstetes Tippeln, Tänzeln, Torkeln, bis sie gemeinsam zu Boden gehen und dort noch für einen Moment als eng verschlungenes Knäuel verbleiben.

Und von vorn: Einer hüpft auf der Stelle, der andere nähert sich zögernd, packt seinen Gürtel, hält sich fest, drückt sich an ihn, atmet laut, und wieder tanzen die nackten Füße umeinander. Während die Oberkörper sich umklammern, schmiegen sie sich ans Bein des Gegenübers, suchen Halt, finden ihn, bis sie einander zu Fall bringen, ohne den Griff zu lösen, noch am Boden halten sich beide unwirsch aneinander fest, ihre Gesichter rot und schweißnass, bis sie endlich voneinander lassen.

Werfen und umklammern

Wer zum ersten Mal olympischen Judoka zusieht, wie sie einander auf der Matte begegnen, diesen grazilen Ringern im Baumwollpyjama (Judogi), wird weniger von der Brutalität des Kampfsports überrascht sein als vielmehr von der Intimität. Die Griffe gleichen ruppigen Umarmungen, die Würfe auf die Matte muten wie das Zubettbringen eines unwilligen Kindes an, und das feste gegenseitige Umklammern am Boden hat etwas von einer plötzlichen Entladung lang unterdrückter Lust.

„Sanfter Weg“ bedeutet Judo ins Deutsche übersetzt. Zwar wäre es übertrieben, Judoka anzudichten, sie begegneten einander ausschließlich mit Milde; doch gewinnt hier ganz offenkundig nicht der Stärkere. Nein, hier hat die Nase vorn, wer seine Choreographie aus Würfen, Griffen und kontrollierten Stürzen sauberer durchführt als der andere; wer geschickter darin ist, mit minimalem Aufwand maximale Wirkung zu erzielen, um den Ringpartner auf den Rücken oder auf die Seite zu betten. Und auch, wenn wir als ungeübte Zuschauer nicht sofort erkennen, wer auf der Matte den Vorteil hat, ist ihr gemeinsamer Tanz von Kraft um eine Mitte nicht nur schön anzusehen, sondern auch die Metapher, die unsere ins Taumeln geratene Welt braucht. Denn jeder Kampf beginnt mit einer tiefen Verbeugung. Sie ist nicht nur Höflichkeit (aber freilich auch solche), sondern das stille Gelöbnis, einander im Kampf als Gleiche zu begegnen. Nicht unfair zu agieren auf der Matte und den Ringpartner – sprich: Gegner – durch gemeinsame Regeln zu respektieren.

Riskante Techniken werden gemieden, denn die Verletzungsgefahr wäre zu groß. Judo ist keine reine Körperübung, sondern fordert den Verstand der Kontrahenten. Es ist eine Kampfkunst, die zugleich Philosophie ist: das gegenseitige Versprechen, einander achtsam zu begegnen, während man sich niederringt; das Vertrauen, dass der Kraft des anderen auch Sanftheit innewohnt – und nicht zuletzt die Einsicht, dass der Boden unser aller gemeinsame Basis ist.