Warum die Maya Menschen opferten: Dunkle Seite einer Hochkultur

Chichén Itzá ist so etwas wie das Florenz Mittelamerikas. Einige der Bauwerke der alten Maya-Stadt im mexikanischen Bundesstaates Yucatán gehören zu den am besten erhaltenen überhaupt und werden – auch dank der Nähe zum Badeort Cancún an der Karibikküste – jährlich von mehr als zwei Millionen Touristen besucht. Die im zehnten Jahrhundert nach Christus erbaute Tempelpyramide der Gottheit Kukulcán etwa, welche die Spanier El Castillo nannten, ist eine architektonische Ikone sondergleichen. Und der Schneckenturm des Observatoriums zeugt von den überragenden kalendertechnischen Kenntnissen der alten Maya. Doch die lichte Stätte hat eine für unsere Begriffe dunkle, ja grausame Seite. Und sie hält sich nicht unbedingt verborgen. Auch dem flüchtigen Besucher wird das Dekor einer Plattform auffallen, die man Tzompantli nennt, mit einem Wort aus der Sprache der Azteken, deren Kultur Jahrhunderte später in Zentralmexiko blühte. Dort bezeichnete es ein Gerüst, auf dem eine große Zahl abgetrennter Köpfe geopferter Menschen aufgereiht war. Die Totenschädel auf dem Tzompantli von Chichén Itzá sind zwar nur in den Stein gemeißelte Reliefs, doch was mag sich auf solch einer Plattform befunden oder abgespielt haben? Tatsächlich kannten auch die Maya den in mehreren präkolumbischen Kulturen Mittel- und auch Südamerikas belegten Brauch, ihren Gottheiten Menschen zu opfern. Zweihundert Meter nördlich des Tzompantli von Chichén Itzá befindet sich der Cenote Sagrado, die „Heilige Doline“. Der kreisrunde, mit Wasser gefüllte Karsttrichter sieht aus wie ein kleiner See. Hier haben Archäologen neben Maya-Artefakten auch Knochen von mehr als zweihundert geopferten Menschen geborgen, die meisten von ihnen Kinder. Und zweihundert Meter entfernt stieß man 1967 auf eine in den Kalkstein gehauene Kammer, einen sogenannten Chultún, mit den Überresten von 106 weiteren Kindern. Was war mit ihnen passiert? Paläogenetiker um Rodrigo Barquera und Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben nun in „Nature“ Analysen von genetischem Material sowie Isotopenuntersuchungen an 64 der Kinderleichen aus dem Chultún von Chichén Itzá veröffentlicht. Wie sich herausstellte, handelt es sich – anders als bei den Toten im Cenote – ausschließlich um Jungen, fast alle um die vier bis sechs Jahre alt. Jungen aus der Gegend Ein Vergleich ihrer Genome mit denen von 68 Bewohnern einer nahen Siedlung heutiger Maya ergab eine genetische Kontinuität zwischen beiden Populationen. „Das spricht dafür, dass die geopferten Jungen zumindest aus der Region kommen“, sagt Johannes Krause. „Weder die DNA noch die Isotope erlauben es allerdings zu unterscheiden, ob sie nur aus der Region stammen oder aus Chichén Itzá selbst. Zusätzliche Daten aus Chichén Itzá können in Zukunft zeigen, ob es auch andere Verwandte in der Stadt gab.“ Noch interessanter allerdings war ein anderer Befund: Etliche der geopferten Kinder waren miteinander verwandt. Im Fall von neun Paaren sogar besonders eng, und in zwei davon handelte es sich um eineiige Zwillinge. Das kann kaum Zufall sein, schreiben die Autoren. „Insgesamt hatten 25 Prozent der untersuchten Kinder einen engen Verwandten in der untersuchten Gruppe. Das ist ein Hinweis darauf, dass die geopferten Kinder spezifisch wegen ihrer engen biologischen Verwandtschaft ausgewählt worden sein könnten.“ Der Befund jeweils ähnlicher Ernährung und ähnlichen Alters zum Todeszeitpunkt eng verwandter Kinder deute überdies darauf hin, dass diese bei dem gleichen rituellen Ereignis als Paare geopfert wurden. Die Heldenbrüder in der Unterwelt Tatsächlich spielen Zwillingsbrüder in der Mythologie der Maya eine herausragende Rolle. Das Popol Vuh, ein wichtiger Text der K’iche Maya, dessen Motive sich bis in die präklassische Periode der Maya-Geschichte zurückverfolgen lassen, also bis in Zeiten vor 250 n. Chr., erzählt von Zwillingsbrüdern, die in die Unterwelt hinabsteigen, dort von den Göttern im Ballspiel besiegt und daraufhin enthauptet wurden. Die Söhne eines der beiden Brüder, ebenfalls Zwillinge, machen sich nun auf, Vater und Onkel zu rächen, und stehen nun mehrere Runden der Tötung und Wiederauferstehung durch, um die Unterweltgötter zu überlisten. Diese sogenannten Heldenzwillinge sind in der gesamten Maya-Welt ein zentrales Motiv. Die Autoren des „Nature“-Artikels vermuten, dass die Opferriten in Chichén Itzá genau darauf Bezug nehmen. Gab es so etwas nur in Chichén Itzá? Tatsächlich hatte diese Stadt ihre große Zeit in der sogenannten postklassischen Epoche der Maya. Diese blühte im Norden des Maya-Gebietes auf der Halbinsel Yucatán, nachdem das politische System der weiter südlich gelegenen klassischen Maya-Städte um das Jahr 900 herum recht plötzlich zusammengebrochen war. Dutzende zuvor teils rivalisierender, teils miteinander verbündeter Stadtstaaten, darunter so mächtige und berühmte wie Palenque, Tikal oder Copán, wurden verlassen. Die Dynastien „göttlicher Herrscher“, die sie über Jahrhunderte regiert hatten, verschwanden auf einmal von der Bildfläche. Der Norden übernahm, aber die Maya-Kultur begann sich zu verändern, so hörte man etwa damit auf, penibel datierte Inschriften in Stein und Stuck zu hinterlassen, die letzte in Chichén Itzá stammt aus dem Jahr 998. Zwanzig Zerstückelte Sind Menschenopfer bei den Maya also ein Phänomen der Postklassik? „In der Tat gibt es aus der Früh- und Spätklassik wenige Belege für physische Gewalteinwirkungen im archäologischen Befund“, sagt der Archäologe Nicolaus Seefeld von der Universität Bonn. „Diese physischen Belege, aber auch die bildlichen Darstellungen nehmen während der frühen Postklassik insbesondere im nördlichen Tiefland merklich zu.“ Allerdings ist Seefeld selbst Entdecker eines drastischen Falls, der nicht in diesen Trend zu passen scheint. Im Jahr 2013 stieß er bei der Erforschung der Wasserversorgungsysteme der spätklassischen Maya-Stätte Uxul im mexikanischen Bundesstaat Campeche auf ein Massengrab mit zwanzig teils gräulich zerstückelten Menschen: Männer, Frauen, Jugendliche, sogar ein Kleinkind. Ihre Leichenteile lagen in einem wohnzimmergroßen Chultún, also einer unterirdischen, ursprünglich zum Speichern von Wasser oder Nahrungsmitteln angelegten Kammer. Diese war nach oben hin mit einer Lehmschicht abgedichtet, worin Seefeld eine Maßnahme zur Eindämmung des Verwesungsgeruches sieht und damit ein Indiz für bereits einschlägige Erfahrungen der Maya im Anlegen solcher Entsorgungsplätze für geopferte Menschen. 75 Tuben Maya-Blau Auf den rituellen Charakter des Ganzen weisen nun zwei Votivgaben hin, die auf der Lehmschicht deponiert worden waren. Eines, ein Kakao-Trinkbecher, enthielt eine kleine Sensation: 75 röhrenförmige Pellets. Kürzlich, am 5. Juni, haben chemische Analysen nun bestätigt, dass es sich um das Rohmaterial für Maya-Blau handelt, ein sehr widerstandsfähiges Pigment, das zuvor nur in bereits applizierter Form nachgewiesen war. Schriftquellen zufolge haben die Maya zu opfernde Individuen vor ihrer Hinrichtung blau bemalt, mit der Farbe des Regengottes Chaak. Damit steht nun außer Frage, dass man es hier nicht mit profanen Mordopfern zu tun hat. Der Fundkomplex von Uxul stellt im gesamten Maya-Gebiet den am besten erhaltenen und am besten dokumentierten der insgesamt 27 heute bekannten archäologischen Kontexte mit Spuren ritueller Gewalt dar. Er wurde inzwischen mit Förderung durch die Gerda Henkel Stiftung konserviert und erschlossen und kann vom 27. Juni an und bis zum 31. Oktober 2024 in einer Sonderausstellung im Museo de Arquitectura Maya in Campeche besichtigt werden. Er ist aber eben nicht der einzige aus einer klassischen Maya-Stätte – und auch nicht der früheste. Im Jahr 2004 etwa stieß man in den berühmten Ruinen von Tikal in Guatemala auf die Bestattung zweier halb verkohlter Leichen aus frühklassischer Zeit, die ebenfalls als Menschenopfer gedeutet und mit den Heldenzwillingen aus dem Popol Vuh in Verbindung gebracht wurden. Opfer aus der Oberschicht Nicolaus Seefeld findet solche Deutungen allerdings etwas gewagt. „Die Heranziehung mythologischer Motive in Interpretationsansätze ist ein Klassiker in allen archäologischen Disziplinen und führt im Rahmen der Maya-Archäologie meiner Ansicht nach selten zu überzeugenden Ergebnissen.“ Daher wäre er auch vorsichtiger als die Autoren der aktuellen „Nature“-Studie, aus der Häufung enger Verwandter unter den geopferten Kindern aus dem Chultún in Chichén Itzá zu schließen, bei diesen Opferungen habe es sich um Reenactments des Motivs der Heldenbrüder aus dem Popol Vuh gehandelt. „Hierfür fehlen weitere Anzeichen. Somit besteht kein nachvollziehbarer kausaler Zusammenhang.“ Auf den ersten Blick erscheinen die Kinderopfer aus Chichén Itzá ein anderes Phänomen mit anderen Hintergründen darzustellen als die Zerstückelten von Uxul. Denn bei Letzteren handelt es sich offenbar überwiegend um erwachsene Angehörige der Oberschicht. So fanden sich in den Gebissen Spuren aufwendiger Einlegearbeiten aus Jade oder Pyrit und in einem Fall auch Gravierungen von Schriftzeichen: IK‘ („Wind“ oder „Atem“) steht da auf den beiden Schneidezähnen eines der Opfer. Dieses und etliche seiner Leidensgenossen kamen den Strontium-Isotopen-Daten zufolge zudem nicht aus Uxul, sondern aus der Gegend des Río Usumacinta, 150 Kilometer weiter südwestlich. Möglicherweise handelt es sich daher bei einem Teil der Toten um die Herrscherfamilie einer mit Uxul verfeindeten Stadt, die nach einem Krieg gefangen genommen worden war. „Die Tatsache, dass es sich bei den Individuen um Kriegsgefangene aus der Usumacinta-Region handelt, steht nicht im Widerspruch zu dieser zusätzlichen Weihung an den Regengott, da die vorspanischen Maya, wie viele vormoderne Gesellschaften, profane und sakrale Aspekte nicht scharf voneinander trennten“, sagt Seefeld. Tatsächlich sind auf bildlichen Darstellungen der klassischen Maya Menschenopfer in militärisch-politischen Zusammenhängen vielfach belegt – und fast nur in solchen. „Alle ikonographischen Daten deuten darauf hin, dass rituelle Gewalt nahezu ausschließlich im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen auftrat. Die Summe der Untersuchungsdaten aus Uxul bestätigt diese Theorie nun erstmalig auch durch physische Belege im archäologischen Befund.“ Sowas gefällt dem Regengott? Die Kinderopfer von Chichén Itzá wiederum lassen weniger an eine machtpolitische Motivkomponente denken, sondern erinnern eher an das, was im 15. Jahrhundert in der Chimú-Kultur im heutigen Peru geschah, wo ein Massengrab mit rund 140 Kindern gefunden wurde, die einer verbreiteten Deutung zufolge sterben mussten, um die Regengötter zu besänftigen. Trotzdem möchte Nicolaus Seefeld die beiden Phänomenkomplexe nicht als völlig getrennt ansehen. „Auch im Falle von Uxul wurde ja ein 18 Monate alter Säugling geopfert. Im Gegensatz zu den erwachsenen Individuen weist dieses Kleinkind keine Anzeichen für physische Gewalteinwirkung auf.“ Zudem sei es in Uxul selbst aufgewachsen. „Der Kontext von Uxul weist also durchaus Parallelen zu Chichén Itzá auf – allerdings ist die Gruppe der bestatteten Individuen heterogener.“ Insgesamt gebe es aber zu wenig Befunde um hier stringente Unterschiede zwischen der Spätklassik und der Postklassik herauszulesen. In mehreren postklassischen Fällen seien auch Erwachsene geopfert worden. Ob Uxul oder Chichén Itzá – mit solchen Befunden arbeitende Archäologen wie Nicolaus Seefeld bemühen sich, wertende Termini wie „grausam“ tunlichst zu vermeiden. Auch in den Altertumswissenschaften stand das Urteilen schon gelegentlich dem Verstehen im Weg. Viele andere dürften sich da schwerer tun. Die Praxis der rituellen Tötung von Menschen, erst recht von Kindern, ist in der alten Welt schon vor Jahrtausenden mehr als nur aus der Mode gekommen. In der abendländischen Tradition – vom Alten Testament über die griechischen Sagen bis zur römischen Propaganda gegen die Karthager – gibt es kaum einen schlimmeren Frevel als diesen. Und doch konnte auch eine hoch entwickelte, schrift- und sternenkundige Zivilisation derlei für statthaft halten. Was bedeutet das für den Zusammenhang zwischen Kultur und Mitmenschlichkeit?