Unzufrieden mit dem Job? Mit der Frau? Der Life-Coach verspricht den Befreiungsschlag. Blick in ein Feld, in dem es seriöse Anbieter gibt. Und Scharlatane

Die Seele reparieren wie eine Autokarosserie: Darum rennen alle zu Lebenscoaches.

Simon Hehli 9 min
Drucken

Illustration Simon Tanner / NZZ

«Ich habe aus meinem Schmerz gelernt. Ich spüre, was eure Probleme sind, und helfe euch, sie zu lösen.» Marco Lehmann steht in gelbem Pullover und On-Schuhen auf der Bühne in Rapperswil. Eindringlicher Blick, breites Lachen: Der Mann weiss, wie er die Leute für sich einnehmen kann. Einst war er Spitzenhandballer, Mister-Schweiz-Kandidat und Reisebürobetreiber. Jetzt ist er Life-Coach und auf der Suche nach neuen Kundinnen.

Fast hundert Personen sind zum «Erlebnisabend #lebenswert» gekommen. Das Publikum ist vorwiegend weiblich, die meisten sind locker gekleidet, sie würden auch gut zu einer dieser hippen Freikirchen passen. Nur, dass im Vorraum CD mit esoterischer Meditationsmusik zum Kauf aufliegen. Und Handkettchen mit Heilsteinen. Sodalith für das logische Denken, Amazonit für Lebenskraft und Schwung. Daneben stapeln sich Ausgaben von Lehmanns Buch. Titel: «Herzensruf».

Es ist ein Heimspiel für den Sonnyboy, er stammt aus Rapperswil. Die Besucher haben für die zwei Stunden 35 Franken bezahlt. Der Anlass dient zum Anfixen: Lehmann will dem Publikum die Angebote seiner Firma Be You schmackhaft machen. Das kann ein Coaching sein. Eine Teilnahme am Gute-Laune-Anlass «Blind Date mit dem Leben», inklusive Transformationsgarantie. Oder gleich die Ausbildung zum «ganzheitlichen Lebenscoach» («ein Life-Changer!»), die ein Jahr dauert und 18 780 Franken kostet. Wer noch zweifelt, kann auch nur das «Ibiza-Retreat» für 3000 Franken buchen: sechs Tage Yoga, Meditation und Energiearbeit.

«Mehr wert als meine Kinder»

«Was in Ibiza passiert, ist magisch, unglaublich!», sagt Lehmann. Dann bittet er einen Mann auf die Bühne, der bei einem Retreat dabei war. Die Erlebnisse auf der Mittelmeerinsel hätten für ihn mehr Wert als seine eigenen Kinder, berichtet der Zeuge. «Ich habe mein Herz gefunden, meine Seele. Ich bin wieder komplett. Marco, ich danke dir so sehr.»

Lehmann ist 42 Jahre alt und seit 2014 Life-Coach. Er hat sich gut positioniert in einem Markt, der wächst und wächst. Die Ratgeber für ein besseres Leben, die ganze Abteilungen in Buchhandlungen füllen und regelmässig Topplätze in der Bestsellerliste belegen, reichen offenbar nicht aus. Im Internet gibt es ein unüberschaubares Angebot an Lebens- oder Mentalcoaches, allein im Raum Zürich sind es über tausend.

Wer in seinem Job unzufrieden ist, mit seiner Beziehung hadert oder generell auf Sinnsuche ist, geht heute nicht mehr zum Pfarrer. Und auch eher nicht zur Psychotherapeutin. Sondern eben zu einem Coach.

Marco Lehmann gibt den Menschen das Gefühl, dass er sie versteht.

Marco Lehmann gibt den Menschen das Gefühl, dass er sie versteht.

PD

Höchstleistung, immer und überall

Die Psychotherapeutin Veronica Defièbre sieht einen Grund für den Boom von Coachings im Druck, den viele Menschen im Beruf verspüren. «Es gibt immer weniger Jobs, in denen man einfach vor sich hin wursteln kann. Fast überall ist Höchstleistung gefragt.» Wer unsicher sei, wo sein Platz in der Gesellschaft sei, wolle nicht mehr jahrelang an sich arbeiten, wie das in einer Psychotherapie der Fall sei. «Die Leute verlangen eine Reparatur ihrer Seele – und zwar sofort. Drei Hypnosesessions, und ich bin ein neuer Mensch. Ist das nicht ein tolles Versprechen?» Man müsse heute eben nicht nur körperlich topfit sein, sondern auch psychisch, sagt Defièbre.

In der Multioptionsgesellschaft ist der Bedarf an Orientierung und Optimierung gross. Viele Coaches, die diese steigende Nachfrage befriedigen, arbeiten topseriös. Sie begleiten etwa Berufsleute, die sich umorientieren wollen. Doch «Coach» ist kein geschützter Titel. In dem grossen Feld tummeln sich auch Scharlatane. Wenn sie suchende Menschen treffen, die psychisch labil sind, kann es gefährlich werden.

Defièbre hat immer wieder mit Patientinnen und Patienten zu tun, die auf Blender hereingefallen sind. «In ihrer Verzweiflung und ihrem Wunsch, schnell geheilt zu werden, sind sie leicht verführbar – und die ‹Coaches› machen ihnen ganz grosse Versprechen.» Die Vizepräsidentin des Verbandes der Schweizer Psychotherapeuten nennt als Beispiel Menschen mit einer Schizophrenie. Diese würden auf spirituelle Angebote wie «Energiearbeit» oder Hypnosen zum Lösen «innerer Blockaden» anspringen. «Sie haben selber ein schräges Denken und fühlen sich verstanden, wenn ihnen jemand von Geistern oder Jenseitserfahrungen erzählt.»

Problematische Methode

Kritisch sieht die Psychotherapeutin auch die sogenannten Systemaufstellungen, die viele Coaches anbieten. Bei diesem Verfahren werden Personen in einem Raum positioniert und miteinander in Beziehung gesetzt. Das soll das Beziehungsgeflecht innerhalb der Familie oder im Beruf eines Klienten visualisieren – und entsprechende Erkenntnisse ermöglichen. Bei einer Patientin von ihr kam laut Defièbre heraus, dass ihre Mutter eigentlich ihre Grossmutter sei. Einer anderen Patientin wurde suggeriert, ihr Vater habe sie in der Kindheit sexuell missbraucht.

«Es sind die wildesten Thesen, die da auftauchen, wie in einer Soap-Opera», sagt Defièbre. Familien könnten zerstört werden. Und die Patienten würden unter Umständen in schwere Krisen gestürzt, manche litten ewig an solchen Geschichten. «Doch die Coaches schicken sie nach der Aufstellung nach Hause, das Ganze ist nicht in eine Therapie eingebettet.»

Laut seiner Website ist auch Marco Lehmann Therapeut im systemischen Stellen. Doch das ist bei der Werbeveranstaltung in Rapperswil kein Thema. Stattdessen verkündet er Sachen wie: «Du musst nicht sagen, ich kann das nicht. Sag: Ich kann das! Das ist nicht Esoterik, sondern einfach Fakt. Es ist eine simple Umprogrammierung.» Lehmanns Weisheiten eröffnen vielleicht keine neuen Horizonte. Aber er schafft es, in einem Saal mit hundert Leuten jedem Einzelnen das Gefühl zu geben, er rede nur mit ihm. Er duzt die Leute, und dieses Du sagt: Ich verstehe genau, was dich umtreibt.

Beziehungsdrama als Lebensschule

Lehmann referiert über den «Egokreislauf», der viel mit den Erwartungen anderer Menschen zu tun habe, die man nicht enttäuschen wolle. Um das zu illustrieren, gibt er Privates preis. Er liest aus seinem Buch vor, wie er sich nur drei Monate nach der Hochzeit mit seiner ersten Frau in seine jetzige Frau Tamara verliebte. Und nach einem langen Ringen mit Schuldgefühlen, Ängsten und schlaflosen Nächten dem Ruf seines Herzens folgte und sich für Tamara entschied. Lehmann legt das Buch weg. «Leider kann ich euch nicht den ganzen Abend daraus vorlesen, auch wenn’s mega spannend ist.»

Doch die Botschaft ist angekommen: Wer ehrlich ist und sich selbst liebt, findet zum Glück. «Am tiefsten Punkt habe ich erkannt, dass nur ich mein Schicksal ändern kann», sagt Lehmann. Und ruft dem Publikum zu: «Wenn ihr einen Studierten sucht, bin ich der Falsche. Mein Lehrmeister war das Leben.» Ein Beziehungsdrama also war der «Schmerz», der Lehmann tiefgreifende Erkenntnisse eröffnete? Eine solide Coaching-Ausbildung hat er jedenfalls nicht absolviert. Sondern nur einen Kurs in Hypnose, der ein paar Tage dauerte.

«Aus dem Leben lernen, das klingt auf den ersten Blick authentisch. Aber es ist mir hochgradig verdächtig», sagt Hansjörg Künzli, Dozent für Beratungspsychologie, Coaching und Methodenlehre an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). «Wer nur selbstreferenziell argumentiert, ist entweder ein Narzisst oder nicht sehr clever.» Es gebe im Bereich der Coachings eine grosse Anzahl von bewährten und geprüften Methoden. «Seriöse Coaches stützen sich auf dieses Wissen ab. Sie schöpfen nicht nur aus sich selbst.»

Hellfühlig

Solche Kritik perlt an Marco Lehmann ab. Sein Erfolg gebe ihm recht, sagt er. Er habe in den letzten Jahren einige tausend Menschen in ein glücklicheres und erfolgreicheres Leben begleitet. «Ich bin hellfühlig geboren», erzählt er bei einem Gespräch einige Wochen nach dem Abend in Rapperswil. «Ich kann mich in ein paar Sekunden in das System von jedem Menschen klicken.» Die Erfahrungen aus über 6000 Coachings hätten seine Empathiefähigkeit noch vergrössert. «Ich bin authentisch und stehe auch zu meinen Schwächen. Das schätzen meine Kunden.»

Lehmann glaubt, dass jeder seiner Coaching-Teilnehmer ein «seelisches Thema» habe und etwa jeder Zehnte eine psychiatrische Diagnose. Solche Leute abzuweisen, kommt ihm nicht in den Sinn. Seine erste Kundin habe an einer Psychose gelitten. «Sie war in vielen Kliniken, hatte keine Hoffnung mehr und wollte sich umbringen. Ich sagte ihr, sie müsse an sich arbeiten. Und sie hat es geschafft. Sie war bei mir besser aufgehoben als in der Psychiatrie.» Auch Burnout-Patienten oder Leuten mit Panikattacken habe er helfen können.

Mittels Hypnose gehe er mit einem Klienten zurück zum Punkt, an dem dessen Probleme begonnen hätten. Etwa, weil jemand als Kind allein in sein Zimmer gesperrt worden sei und dadurch ein Trauma erlitten habe. «Ich schicke dann den Klienten zurück in diese Situation, damit er sich selbst umarmt. So kann er sich heilen.» Er wisse, dass das nach Hokuspokus töne, räumt Lehmann ein. «Aber ich habe x-mal gesehen, dass die Methode funktioniert.»

Bei den Veranstaltungen von Marco Lehmann herrscht gute Laune.

Bei den Veranstaltungen von Marco Lehmann herrscht gute Laune.

PD

Und auch bei körperlichen Beschwerden wie Neurodermitis lasse sich mit Hypnose viel machen, sagt Lehmann. Selbst bei Krebs? «Ich bin kein Wunderheiler», wehrt er ab. Dass er Krebs heilen könne, das würde er nie behaupten. Und tut es dann irgendwie doch. «Meine Frage wäre: Was ist in einem Leben falsch gelaufen, dass der Krebs einen Körper auffrisst? Wenn man die Antwort findet, könnte man Heilungsprozesse in Gang setzen.»

Ein Schneeballsystem

Es sind hypothetische Überlegungen, noch hat ihn nie jemand mit einem Tumor um seine Hilfe gebeten. Bei Lehmanns Coachings geht es meist um nicht ganz so schwere Themen: Wie finde ich den Glauben an mich selbst und kann selbstbewusst vor einem grösseren Publikum auftreten? Was ist meine Berufung? Stark sei er auch bei Beziehungsfragen wie dem Fremdgehen. «Da habe ich ja auch meine Erfahrungen gemacht.» Wieder dieses breite, gewinnende Lachen.

Als Coach ist Marco Lehmann nur noch selten tätig, dafür bildet er nun andere Leute aus. So sind nach seinen Angaben bereits Dutzende Coaches in der Schweiz tätig, die ihr Diplom an seiner Be You Academy erworben haben. Vielleicht werden sie eines Tages auch Leute ausbilden – ein Schneeballsystem. Auf ihre Eignung für den Job prüft Lehmann die Nachwuchscoaches nicht. Anfangs habe er gedacht, er müsse das machen, sagt er.

Doch dann habe er eine Frau in der Ausbildung gehabt, die suizidal gewesen sei. «Ich sagte ihr, ich könne sie nicht auf die Leute loslassen. Sie antwortete, sie wolle die Ausbildung nur für sich machen. Sie zog es durch, obwohl ich zweifelte, dass sie es schafft. Heute ist sie eine selbstbewusste Mutter und grossartige Hypnosetherapeutin.» Frauen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hätten wie die Therapeutin einst, seien bei ihr wohl besser aufgehoben als bei ihm selbst.

Der ZHAW-Professor Künzli findet es problematisch, dass «Krethi und Plethi» solche Ausbildungen machen und nachher als Coach arbeiten. «Was würden wir sagen, wenn jemand behauptete, er sei Arzt, weil ihn das Leben gelehrt habe – und dann dieses ‹Wissen› auch noch an andere weitergäbe?»

Berufsprüfung gefordert

Jede Zahnbürste, die er im Coop kaufe, habe mehrere Prüfinstanzen durchlaufen. «Aber in einem hochsensiblen Bereich, in dem es um psychische Gesundheit, Intimität, Konfliktbewältigung, Beziehungsgestaltung in Teams oder die Entwicklung von Strategien für ganze Unternehmen geht, da kann jeder Unqualifizierte einfach so sein Business aufziehen.» Künzli plädiert deshalb dafür, den Titel des Coaches oder Beraters zu schützen. Und eine Prüfung einzuführen als Voraussetzung, um den Beruf ausüben zu dürfen.

Das würde auch die Psychotherapeutin Defièbre begrüssen. Sie erzählt von einem Patienten, der seine Beziehung mit einem Coaching habe retten wollen. Der Coach hingegen riet dem Paar offensiv zur Trennung. Irgendwann erfuhr der Ehemann, dass seine Gattin eine Affäre mit dem Coach hatte. Als Psychotherapeut müsste man in einem solch krassen Fall einen Entzug der Zulassung befürchten, sagt Defièbre. «Aber bei einem Coach passiert einfach: nichts.»

Für Ratsuchende ist es aufgrund des Wildwuchses schwierig, seriöse von unseriösen Coaching-Angeboten zu unterscheiden. Hansjörg Künzli empfiehlt, die Website eines Coaches genau anzuschauen. Eine Form von Spezialisierung – etwa für Kaderleute oder für Partnerschaften – sei ein gutes Zeichen. Coaches, die behaupteten, alle Bereiche abzudecken, würden bei ihm ein Gruseln auslösen, sagt Künzli. «Zu wissen, was man nicht kann, ist eine der wichtigsten Fähigkeiten eines Coaches.»

Vertrauensbildend ist laut Künzli auch, wenn ein Coach ein sozialwissenschaftliches Studium und eine von den grossen Berufsverbänden wie BSO, ICF oder EMCC anerkannte Weiterbildung absolviert habe. Und wenn er mit anderen Coaches und Fachpersonen zusammenarbeite, auf die er gegebenenfalls zurückgreifen könne. Hilfreich sei auch die Beraterlisten der Berufsverbände. «Wenn ein Coach eine Ausbildung gemacht hat, die den Richtlinien eines Verbandes entspricht, kann ich davon ausgehen, dass er kein Hochstapler ist. Die Bereitschaft, von anderen zu lernen, zeigt ja auch eine gewisse Bescheidenheit.»

Teure Dienste

Marco Lehmann sagt, dass sich im Coaching-Markt automatisch die Spreu vom Weizen trenne. «Die Leute merken schnell, wer sie weiterbringt und wer nicht. Ich hatte auf jeden Fall noch nie eine Reklamation.» Und das, obwohl seine Dienste teuer sind, wie er nicht bestreitet. «Aber ich bin es wert. Und so kann ich auch sicher sein, dass alle, die zu mir kommen, das auch wirklich wollen.»

Nach über einer Stunde endet in Rapperswil der Teil des Abends, den Marco Lehmann selber bestreitet. Eine kurze Pause, dann, so das Versprechen, bringt Katiuscia «deinen Körper in Bewegung und entführt dich in die Welt der Sinnlichkeiten». Katiusca Di Marino hat bei Lehmann die Ausbildung gemacht, heute ist sie seine «Be You»-Geschäftspartnerin – und selbst Ausbildnerin.

So soll seine «Be You»-Welt immer grösser werden, die nie nur sagt: Sei du selbst. Sondern immer auch: Bist du der Nächste?

Im Publikum diskutieren die Leute über Energieströme im Körper. Und darüber, wann sie das nächste Retreat besuchen werden.