Im Sommer 2023 rollt eine Welle von Vorwürfen durch die sozialen Medien. Im Fokus: Der Rammstein-Sänger Till Lindemann. Zahlreiche Frauen berichten, sexuelle Grenzverletzungen im Umfeld von Rammstein-Konzerten erlebt zu haben. Die Debatte über die Vorwürfe polarisiert nicht nur Musik-Fans.
Die Anschuldigungen gegen Lindemann sind nur die Spitze des Eisbergs: Für ihr Buch «Row Zero. Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie» haben die Investigativ-Journalisten Lena Kampf und Daniel Drepper mit 200 Menschen aus der Branche gesprochen: von Künstlerinnen über Groupies hin zu Mitarbeitenden von Plattenfirmen und Agenturen. Die saubere Recherche und umfangreichen Gespräche machen deutlich: Erfahrungen mit Machtmissbrauch und Übergriffen jeglicher Art sind in der Branche Teil des Alltags. Und es sind vor allem Erfahrungen von Frauen.
Ein idealer Boden für Übergriffe
Das Buch rollt auf, wie sich über Jahrzehnte hinweg in der Musikindustrie Strukturen gebildet haben, die solche Vorfälle nicht nur ermöglichen, sondern sogar zu begünstigen scheinen. So war die Welt der Plattenfirmen, Veranstalter und Agenturen lange männerdominiert. Die wenigen Frauen, die in den 80er und 90er Jahren dort arbeiteten, stiessen schnell an eine gläserne Decke. Und sie berichten von regelmässigen Übergriffen durch Vorgesetzte, Kollegen und Künstler. Diese Strukturen würden sie noch immer spüren, erzählen Mitarbeiterinnen heute.
Ausserdem konzentriere sich die Macht an den Spitzen weniger Unternehmen. Insider beschreiben die deutsche Musikindustrie als «ein Dorf»: Jeder kenne jeden. Wer die Stimme gegen Missstände oder gar konkrete Personen erhebt, gefährde die eigene Karriere. Welcher Künstler, welche Managerin beruflich weiterkommt, hänge wiederum auch von subjektiven Kriterien ab, sagt Depper: «Es kommt stark darauf an: Wer kennt wen? Mit wem kann ich gut? Mit wem habe ich mal drei Bier an der Bar getrunken?». Dass der Bar-Abend karriereentscheidend sein kann, ist ein Symbol für eine Branche, in der die Grenzen verschwimmen: zwischen Arbeit und Freizeit, beruflichen Verhandlungen und privaten Partys.
Mythos: Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll
Hinzu kommt die Rolle der Musikerinnen und Musiker: «Es gibt wahrscheinlich keine Branche, in der Künstler so idolisiert werden», so Drepper. Diese Macht scheinen Künstler immer wieder zu missbrauchen: gegenüber Managerinnen und Agentinnen – und gegenüber vornehmlich jungen, weiblichen Fans und Groupies.
Für manche Frauen ist Sex mit Stars zwar pure Freiheit und Selbstbestimmung. Aber viele, so zeigt das Buch, haben auch schlechte Erfahrungen gemacht: Sie nehmen den Sex als nicht einvernehmlich wahr, ob währenddessen oder im Nachhinein.
Ein wenig Optimismus
Das Buch zeigt auch: Es tut sich etwas in der Musikindustrie. Denn der Druck wächst: von aussen, weil unsere Gesellschaft sensibler geworden ist für Machtmissbrauch und Sexismus. Aber auch von innen: Mitarbeiterinnen von Plattenfirmen fordern Konsequenzen für Künstler, die bei ihnen unter Vertrag stehen und denen problematisches Verhalten vorgeworfen wird.
Es gibt viele Baustellen, aber Daniel Drepper wagt Optimismus: Seit dem Rammstein-Skandal seien «mehr Räume offen, um über diese Dinge zu sprechen: Weil Leute zuhören, die vorher nicht zugehört haben.»