Um 60 Prozent haben sich die Anfragen bei Psychotherapeutinnen und -therapeuten in der Pandemiezeit erhöht, ergab eine Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung. An die Pandemie reihten sich weitere Krisen wie der Krieg in der Ukraine, der Nahostkonflikt oder Klimakatastrophen – die auch Kinderseelen belasten. Im Interview sagt Julia Asbrand, Professorin für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Friedrich-Schiller-Universität Jena: „Es ist nicht so, dass ohne diese Krisen keine Kinder mehr psychisch erkranken würden, aber sie sind ein weiterer Aspekt, der junge Menschen sehr beschäftigt und ihnen das Leben schwerer machen kann, etwa weil sie Zukunftsperspektiven rauben.“
Unabhängig davon sind Kinder und Jugendliche generell eine psychisch leicht verletzliche Gruppe: Etwa Dreiviertel aller seelischen Erkrankungen beginnen vor dem 25. Lebensjahr, ein Großteil vor dem 14. Dazu zählen das Aufmerksamkeitsdefizit ADHS sowie Depressionen, Angsterkrankungen, Essstörungen oder Süchte.
Herausforderungen für junge Menschen sind hoch
„Junge Menschen haben besonders viele Entwicklungsaufgaben zu bewältigen“, sagt Julia Asbrand. „Wir haben es in dieser Zeit mit großen Themen zu tun: Kinder und Jugendliche müssen eine eigene Identität entwickeln, unabhängig von ihrer Familie werden und sich an die stetigen Veränderungen in ihrem Leben anpassen. Gleichzeitig passiert bei ihnen körperlich viel. Sie sind noch voll in der Entwicklung, noch nicht gefestigt. Äußere Krisen haben daher einen besonders großen Effekt auf sie.“
Äußere Krisen, das können die ganz großen Weltthemen sein, aber auch ganz persönliche: die Trennung der Eltern, massive Probleme in der Schule, Mobbing, der Umzug in eine andere Stadt, der Tod eines engen Verwandten, Gewalt. All das setzt jungen Seelen deutlich mehr zu als Erwachsenen.
Veränderungen wahrnehmen
Vor allem Eltern sind für sie wichtige Gesprächspartner. Sie sind es auch, die erkennen können, ob es dem Kind so schlecht geht, dass es professionelle Hilfe benötigt. „Eltern müssen keine Erkrankung diagnostizieren können. Aber sie erkennen am ehesten, ob ihr Kind sich zum Beispiel relativ plötzlich verändert hat“, erklärt die Psychologieprofessorin aus Jena. Eine ganz andere Stimmung, einbrechende Schulleistungen, der Rückzug von Gleichaltrigen: Das sind mögliche Anzeichen. „Aber in der Pubertät können das phasenweise auch ganz normale Verhaltensweisen sein“, warnt Asbrand.
Bei Selbstisolierung aufhorchen
Meidet das Kind allerdings Freundinnen und Freunde, steckt vielleicht mehr dahinter. „Dann gilt es nicht gleich, einen Termin beim Therapeuten zu machen, sondern das Kind erst einmal anzusprechen. Etwa, dass einem etwas aufgefallen ist, ob es ihm oder ihr nicht gut geht und ob man helfen kann.“
Heiko Borchers ist in der Fachgruppe Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung aktiv. „Wenn man ein ungutes Gefühl hat und vielleicht Mutter wie Vater unabhängig voneinander eine Veränderung des Kindes festgestellt haben, sollte man das lieber zu früh als zu spät professionell abklären lassen“, sagt er, der selbst eine Psychotherapiepraxis in Schleswig-Holstein hat.
Keine Zeit verlieren, Rat einholen
Kinder- und Hausarzt können ein erster Ansprechpartner sein. Therapeut Borchers empfiehlt die psychotherapeutische Sprechstunde in einer entsprechenden Praxis. Sie kann bei Kindern und Jugendlichen bis zu zehn Termine umfassen und insgesamt bis zu 250 Minuten dauern. Dabei wird untersucht, welche Symptome das Kind hat, ob es eine Psychotherapie benötigt, vielleicht sogar akut oder welche anderen Hilfen sinnvoll sein könnten. Geht das psychische Problem beispielsweise eher auf Ehekonflikte der Eltern zurück, kann der Besuch einer Familienberatungsstelle ratsam sein. Sind Medikamente sinnvoll, muss ein Psychiater hinzugezogen werden.
Aber: Der erste Schritt ist wichtig. „Gerade bei Kindern sollte man keine Zeit vertun, denn ihre Uhr läuft schneller“, betont Borchers. „Ein halbes Jahr bedeutet für ein Kind etwas ganz anderes als für einen Erwachsenen. In dieser Zeit entwickelt sich bei ihm so viel.“
Krankenkassen zahlen Psychotherapie für Kinder
Eine Psychotherapie gilt als wirksam und sicher für Kinder wie Jugendliche. Sie kann schon in jüngsten Jahren helfen, seelische Leiden zu lindern. Gesetzliche Krankenkassen bezahlen eine Psychotherapie für Kinder und Jugendliche, wenn eine Diagnose vorliegt und die Psychotherapeutin eine Zulassung besitzt, mit gesetzlichen Kassen abzurechnen.
Lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz
Therapeuten haben Psychologie, Pädagogik oder Sozialpädagogik studiert und anschließend eine mehrjährige Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten absolviert. Aktuell sind etwa 20 Prozent der Psychotherapeuten mit Kassenlizenz auf Kinder und Jugendliche spezialisiert. „Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind zum Teil noch schlimmer als bei Erwachsenen. Gerade im ländlichen Raum herrscht eine extreme Versorgungsnot“, betont Expertin Julia Asbrand aus Jena.
Tipp: Welche Möglichkeiten Sie nutzen können, um einen Psychotherapieplatz für Ihr jüngeres oder jugendliches Kind zu finden, erfahren Sie in unserem Special zur Suche nach einem Psychotherapieplatz.
Spielerische Behandlung
Psychotherapeut Heiko Borchers behandelt Erwachsene sowie Kinder und Jugendliche. Die eine Hälfte seines Behandlungsraums ist darum sehr viel bunter. Statt 50-minütiger Gespräche läuft vieles in der Behandlung von Kindern spielerisch ab. Da können Handpuppen dazu dienen, einen Konflikt in der Familie darzustellen oder Tierfiguren aus Plastik, um über Angst zu reden. Mit Stiften malen Kinder ein Problem aus der Schule auf. „In manchen Praxen finden sich Kunststoffschwerter oder Boxsäcke, mit denen Kinder und Jugendliche Aggressionen loswerden können“, erzählt Borchers. Er habe zudem viele Gesellschaftsspiele da, über die er einerseits die kognitive Leistungsfähigkeit feststellen könne und andererseits mit den Kindern ins Gespräch komme.
Nicht bevormunden, ist wichtig
„Wenn sich zwei Kinder im Grundschulalter verabreden, treffen sie sich nicht zum Kaffeetrinken und Quatschen, sondern zum Spielen“, sagt Professorin Asbrand. „Spiel ist ihre Art der Kommunikation und auf diesem Level interagieren Psychotherapeuten mit ihnen.“ Bei Jugendlichen ziehen Spiele weniger, weiß Therapeut Borchers. „Aber auch sie muss man als Therapeut da abholen, wo sie stehen. Man muss sich auf sie einlassen und sollte sie nicht bevormunden“, sagt er.
Gespräche mit Angehörigen
In der Therapie von Kindern und Jugendlichen spielt das persönliche Umfeld eine sehr große Rolle, anders als bei Erwachsenen. Psychotherapeuten holen regelmäßig die Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen wie Geschwister, Lehrkräfte oder Großeltern hinzu oder vereinbaren mit ihnen einzelne Gespräche. Ihnen stehen mindestens 100 Minuten für solche Gespräche ohne die Kinder oder Jugendlichen zur Verfügung und sie dürfen das soziale Umfeld in jeder Therapiephase dazuholen.
Gezielte Elterntrainings
In den Angehörigengesprächen geht es unter anderem um die Lebenssituation des Kindes und darum, wie die Erwachsenen ihm helfen können. Manche Praxen bieten gezielt Elterntrainings an. „Wenn die psychischen Probleme durch elterliche Konflikte oder Mobbing in der Schule entstehen, hilft es ja nicht, wenn ich nur mit dem Kind darüber spreche. Sondern es muss an der Situation etwas geändert werden“, sagt Asbrand.
Schweigepflicht gilt auch gegenüber Eltern
„Eltern haben zudem ein Recht darauf zu erfahren, was in der Behandlung passiert“, ergänzt Borchers. Gleichzeitig unterliegen Psychotherapeuten der Schweigepflicht. Die Inhalte der Angehörigengespräche besprechen sie deshalb vorher mit den jungen Patienten. Meist kommen eher allgemeine Dinge zur Sprache, weniger Details. „Man kann den Eltern zum Beispiel mitteilen, dass ihr Kind von Problemen in der Schule berichtet, schildert dabei aber nicht den konkreten Vorfall, von dem es gesprochen hat“, sagt Psychotherapeut Borchers. Er und seine Kolleginnen müssen den Balanceakt zwischen Transparenz und Vertrauen schaffen – damit eine Psychotherapie mit den Jüngsten gelingen kann.
Kommentarliste
Nutzerkommentare können sich auf einen früheren Stand oder einen älteren Test beziehen.
@cctfer: Das stimmt. Wer sich für seine mentale Gesundheit Hilfe holt, bekommt bestimmte Versicherungen nur schwer. Wie das aber trotzdem klappen kann, erklären wir im Artikel
"Trotz Therapie gut versichert" www.test.de/Gut-versichert-trotz-Psychotherapie-6018021-0/
Bei der Suche nach gutem Versicherungsschutz kann Ihnen ein auf Berufsunfähigkeitsversicherungen spezialisierter Fachmakler oder ein Versicherungsberater helfen.
Bestimmte Versicherungsabschlüsse (bspw. Berufsunfähigkeit), die Stiftung Warentest auch empfiehlt, werden durch Psychotherapien erschwert, z. B. durch Ausschlüsse, erhöhte Kosten oder gar Absagen. Das sollte bei der Entscheidung, ob man eine Therapie aufsucht, zwar nicht berücksichtigt werden - schließlich ist Gesundheit immer wichtiger als Geld - aber im Rahmen einer ganzheitlichen Aufklärung sollte es m. E. erwähnt werden. Auch wenn es für Kinder nebensächlich ist, könnte es manche Jugendliche schon betreffen.