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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter September 7, 2023

Mental Health Surveillance in Deutschland

Mental health surveillance in Germany
  • Lena Walther EMAIL logo , Elvira Mauz , Heike Hölling and Julia Thom
From the journal Public Health Forum

Zusammenfassung

Mit der Etablierung der psychischen Gesundheit als Public-Health-Thema wird auch ihre Surveillance (Überwachung) gefordert. Am Robert Koch-Institut ist daher eine Mental Health Surveillance für Deutschland im Aufbau. Die fortlaufende und systematische Beobachtung zentraler Indikatoren der psychischen Gesundheit der Bevölkerung mit einer regelmäßigen Berichterstattung soll verlässliche Aussagen über Entwicklungen liefern und somit eine wichtige Informationsgrundlage für die Public-Health-Praxis bieten.

Abstract

As mental health becomes more established as an area of public health, there have been increased calls for its surveillance. A Mental Health Surveillance for Germany is in development at the Robert Koch Institute. The continuous and systematic observation of central indicators of population mental health and regular reporting of results is to provide reliable information on developments as an important foundation for public health practice.

Surveillance im Bereich Public Mental Health

Damit die Gesundheit der Bevölkerung evidenzbasiert geschützt und gefördert werden kann, muss ihre Entwicklung messbar gemacht und erfasst werden. In diesem Sinne ist Surveillance (Überwachung) ein integraler Bestandteil von Public-Health-Konzepten [1], [2]. Sie beinhaltet die „fortlaufende und systematische Erhebung, Analyse, Interpretation und Dissemination von Gesundheitsdaten‟ zur Unterstützung von Public-Health-Praxis [3]. Im Wesentlichen werden präzise definierte Indikatoren der Bevölkerungsgesundheit in angemessenen Zeitabständen quantifiziert, um Veränderungen erkennbar zu machen. Die Ergebnisse sollen Problemlagen aufzeigen, Handlungsbedarfe und Zielgruppen für Interventionen identifizieren und in die Evaluation von Public-Health-Maßnahmen einfließen [2], [3]. Angesichts dieser Praxisorientierung spielt auch die adressatengerechte Berichterstattung an Akteure in Politik und Gesundheitssystem eine zentrale Rolle [4].

Während die Surveillance von Infektionskrankheiten etabliert ist, wird dieses Paradigma erst in jüngerer Vergangenheit auf nicht-übertragbare Krankheiten (noncommunicable diseases, NCD) und allmählich auch auf den Bereich der psychischen Gesundheit angewandt [5]. Diese Entwicklung findet vor dem Hintergrund einer wachsenden Anerkennung der Bedeutung der psychischen Gesundheit für die Bevölkerungsgesundheit statt (siehe z.B. [6]). Damit einhergehend erweitert sich die teils ihrer Stigmatisierung geschuldete, beschränkte Perspektive auf psychische Gesundheit als individualmedizinisches Feld zunehmend um ihre Aufnahme als Public-Health-Thema [7], [8]. Als solches ist sie auch zum potenziellen Objekt von Interventionen sowie Beobachtung auf Bevölkerungsebene geworden. Eine hervorzuhebende spezielle Herausforderung für die stetige Beobachtung von Phänomenen der psychischen Gesundheit ist die fortlaufende Weiterentwicklung der Konzeptualisierung und Klassifikation von psychopathologischen Phänomenen [9].

Heute befinden sich international – unter anderem in Australien [10], der Schweiz [11] und Kanada [12] – unterschiedlich umfängliche Surveillance-Praktiken im Bereich Public Mental Health in Entstehung bzw. im Einsatz [13]. Die Entwicklung nationaler Informationssysteme für Indikatoren der psychischen Gesundheit ist als Zielsetzung im WHO Mental Health Action Plan (2013-2030) verankert [14]. In der COVID-19-Pandemie gewann die Forderung nach Surveillance auch von psychischer Gesundheit an Nachdruck [15].

Aufbau einer Mental Health Surveillance für Deutschland am Robert Koch-Institut

Auch in Deutschland beschränkte sich Surveillance lange auf übertragbare sowie Krebserkrankungen. Im Bereich psychische Gesundheit mangelt es bislang an gezielten, adäquat regelmäßigen Erhebungen und Auswertungen zu festgelegten Kennwerten sowie an Berichterstattungsroutinen. Folglich lässt sich die bisherige Informationslage zu Stand und Entwicklung der psychischen Gesundheit der deutschen Bevölkerung trotz einer Vielfalt an Daten und Studien insgesamt als fragmentiert und lückenhaft beschreiben, wodurch verlässliche Aussagen kaum möglich sind [13].

Angesichts dieses Status quo begann 2019 beauftragt durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) am Robert Koch-Institut (RKI) der Aufbau einer Mental Health Surveillance (MHS) für Deutschland [13]. Als Grundlage für die MHS wurde zusammen mit externen Expert*innen und Stakeholdern ein umfassendes Public-Mental-Health-Rahmenkonzept bestehend aus 60 Indikatoren in verschiedenen Handlungsfeldern konsentiert [13], [16]. Ausgewählt wurden diese Indikatoren anhand ihrer Bedeutsamkeit für die psychische Bevölkerungsgesundheit sowie ihrer Beeinflussbarkeit durch Public-Health-Maßnahmen. Sie bilden nicht nur Psychopathologie ab, sondern auch die Dimension der positiven psychischen Gesundheit, verschiedene Determinanten psychischer Gesundheit sowie Facetten der Versorgung und Krankheitslast. Im längerfristigen Aufbauprozess sollen Indikatoren zu Gesundheitsförderung und Prävention sowie für spezifische Lebensphasen wie das Kindes- und Jugendalter hinzukommen. Als nächstes gilt es, die Operationalisierung der bereits konsentierten Indikatoren mit verfügbaren Datenquellen aufeinander abzustimmen. Zunehmend steht dabei die Integration der MHS in die am RKI entstehende NCD-Surveillance für Deutschland im Fokus. Um die künftige Berichterstattung optimal an den Bedarfen der Adressaten u. a. aus Politik und Gesundheitssystem auszurichten, soll diese im Austausch mit den Akteuren weiterentwickelt werden.

Strategien zur Beobachtung der psychischen Bevölkerungsgesundheit

Im Grundansatz sollen durch die MHS zukünftig regelmäßige Bestandsaufnahmen zu einer Vielfalt an Indikatoren bereitgestellt werden, basierend auf Routinedaten vor allem aus dem Versorgungssystem und Surveys in der Allgemeinbevölkerung [17]. Dabei sollen Aussagen zu Entwicklungen auch in einzelnen Bevölkerungsgruppen (nach Alter, Geschlecht, Bildung, Region) getroffen werden können. In der Zusammenschau mehrerer Indikatoren können sich dabei Grundzüge eines Gesamtbildes über Entwicklungen abzeichnen, zum Beispiel in der vergleichenden Betrachtung von Determinanten und Morbidität. Da Trends in Diagnosen psychischer Störungen im Gesundheitssystem und der Prävalenz gemäß psychodiagnostischem Interview oder psychopathologischem Screening in der Bevölkerung auseinandergehen können, soll zudem zwischen Datenquellen trianguliert werden [18].

Als Antwort auf neue und dringliche Informationsbedarfe in der COVID-19-Pandemie entwickelten sich darüber hinaus in einem Ad-hoc-Einstieg in die Praxis zwei weitere Strategien der Surveillance [17]. Zum einen wurde, wie auch in anderen Ländern (z.B. in Frankreich [19]), eine hochfrequente Beobachtung weniger Kennzahlen zur psychischen Gesundheit aufgesetzt, die Reaktionen auf aktuelle Entwicklungen ermöglichen soll. Dazu werden Zeitreihen aus monatlichen Schätzungen basierend auf RKI-Telefonsurveys von Erwachsenen berechnet und quartalsweise an das BMG berichtet. Dynamische und besorgniserregende Entwicklungen in depressiven Symptomen, Angstsymptomen und der subjektiven psychischen Gesundheit [20] belegen den Mehrwert dieses Ansatzes und die Notwendigkeit einer weiteren Beobachtung. Zum anderen erwies sich ein kontinuierliches Literatur-Review mit monatlichen Berichten an das BMG als aufschlussreiche Strategie zur Beobachtung der aktuellen Evidenzlage und Forschungsaktivität in Zeiten eines hohen Publikationsaufkommens [17]. Bei zunehmender Anzahl an Veröffentlichungen zur Entwicklung der psychischen Gesundheit in der Pandemie zeigten sich eine veränderte Lagebewertung und Evidenzlücken zu jeweils aktuellen sowie späteren Pandemiephasen.

Fazit

Bei weiterem Aufbau und Betrieb kann die MHS eine wichtige Informationsgrundlage für Förderung und Schutz der Bevölkerungsgesundheit in Deutschland bieten. Die kontinuierliche Beobachtung von Entwicklungen in soziodemographischen Gruppen könnte die Erreichung des zentralen Public-Health-Ziels der gesundheitlichen Chancengleichheit [2] unterstützten. Indem sie Problemlagen, aber auch Erfolge von Maßnahmen auf Bevölkerungsebene sichtbar machen kann, birgt Surveillance zudem das Potenzial, die Weiterentwicklung der Public-Mental-Health-Praxis und ihrer Zielsetzungen anzuregen. Die jüngsten kollektiven Krisen haben außerdem gezeigt, wie wichtig eine genaue Kenntnis gesundheitlicher Entwicklungen während sowie außerhalb von Krisen ist, um krisenbedingte Veränderungen erkennen und einordnen zu können. Auch für eine solche Crises-Prepardness ist Surveillance im Bereich psychischer Gesundheit angezeigt.


*Korrespondenz: Dr. Lena Walther, Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Nordufer 20, 13353 Berlin, Deutschland

  1. Autor:innenerklärung

  2. Autor:innenbeteiligung: Alle Autorinnen tragen Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und haben der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Der Beitrag wurde im Rahmen des Projektes „Aufbau einer nationalen Mental Health Surveillance am RKI (MHS)“ erstellt. Das Projekt wird gefördert durch das Bundesministerium für Gesundheit (Funder Id: http://dx.doi.org/10.13039/501100003107, Fördernummer ZMI5-2519FSB402, Laufzeit 03/2019 – 06/2023). Interessenkonflikt: Die Autor:innen erklären, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.

  3. Author Declaration

  4. Author contributions: All authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: This work was produced within the framework of the project “Development of a national Mental Health Surveillance at the RKI (MHS)”. This project is funded by the Federal Ministry of Health (Funder Id: http://dx.doi.org/10.13039/501100003107, grant number: ZMI5-2519FSB402, project period: 03/2019 – 06/2023). Conflict of interest: Authors state no conflict of interest. Ethical statement: Primary data for human or for animals were not collected for this research work.

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Online erschienen: 2023-09-07
Erschienen im Druck: 2023-09-26

©2023 Lena Walther et al., published by De Gruyter, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 1.8.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pubhef-2023-0072/html
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