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Freisprüche im «Fall Mike» auch in zweiter Instanz
Aus Schweiz aktuell vom 08.07.2024.
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Tod nach Polizeikontrolle «Fall Mike»: Kantonsgericht bestätigt Freispruch der Polizisten

  • Im aufsehenerregenden Berufungsverfahren gegen sechs Lausanner Polizisten, die im Fall des 2018 getöteten Mike Ben Peter der fahrlässigen Tötung und des Amtsmissbrauchs beschuldigt werden, wurde in Renens (VD) in zweiter Instanz ein Urteil gesprochen.
  • Das Waadtländer Kantonsgericht hat den Freispruch der Polizisten bestätigt.
  • Demnach hätten die Einsatzkräfte verhältnismässig reagiert.

Ein 39-jährigen Nigerianer hatte sich bei einer Drogenkontrolle in Lausanne widersetzt und war bei seiner Festnahme durch die sechs angeklagten Polizisten ums Leben gekommen. Nach einem Freispruch in erster Instanz im Juni 2023 und einem dreitägigen, aufsehenerregenden Berufungsverfahren lag es an den drei Richtern des Berufungsgerichts zu entscheiden, ob sich die sechs Beamten der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht hatten. Zudem mussten die Richter auch über Amtsmissbrauch urteilen, der in zweiter Instanz als Anklagepunkt hinzugefügt worden war. Sie sprachen die Polizisten in beiden Anklagepunkten frei.

Was war passiert?

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Legende: Symbolbild der Kantonspolizei Waadt Keystone/Laurent Gillieron)

Die Anklageschrift protokolliert den Einsatz vom 28. Februar 2018 auf die Minute genau: Um 22:30 Uhr sieht ein Polizist Mike. Er hält ihn für verdächtig, weil er sich bei einem Auto zu Boden beugt und ein Plastiksäcklein versteckt. Der Polizist hält den Nigerianer am Arm fest und ruft Verstärkung. Ab 22:48 Uhr kommen fünf Polizisten hinzu, bringen den Mann in Bauchlage und halten ihn fest. Fünf Minuten später werden Mike Handschellen angelegt. Um 22:56 Uhr hört er auf, sich zu wehren. Die Polizisten finden Kokain-Kügelchen in seinem Mund. Um 23:02 Uhr trifft die Ambulanz ein, Mike wird ins Unispital Lausanne gebracht. Dort stirbt er am Folgetag um 10:39 Uhr – im Alter von 39 Jahren.

Die Polizisten mussten sich nun wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten. Allerdings wurde diese Anklage im erstinstanzlichen Prozess vor dem Bezirksgericht Lausanne vom zuständigen Staatsanwalt fallen gelassen. Ein unüblicher Schritt, den ein Staatsanwalt nur macht, wenn er selbst von der Unschuld der Angeklagten überzeugt ist. In der Folge hat das Gericht auch alle sechs Polizisten freigesprochen. Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt.

Die ursprünglich fallen gelassene Anklage hinterliess im vergangenen Jahr einen faden Beigeschmack. Am Ende des ersten Prozesses hatten der Anwalt der Opferfamilie und kritische Beobachter den Eindruck, dass die Staatsanwaltschaft die schweren Vorwürfe der Polizeigewalt nicht mit der letzten Konsequenz aufklären wollte. Die Anklageschrift umfasste nur sechs Seiten und beschrieb die Vorfälle nicht sehr exakt. So war auch nicht klar, was, welchem der sechs Polizisten vorgeworfen wird.

Nun verwiesen die Richter in ihrem Urteil in zweiter Instanz insbesondere auf die gerichtsmedizinischen Gutachten. Diese hatten festgestellt, dass es unmöglich sei, mit Sicherheit zu sagen, dass der Dealer aufgrund des Polizeieinsatzes und aufgrund des Festhaltens in Bauchlage gestorben sei. Das Berufungsgericht befand ausserdem, dass die Polizisten ihre Sorgfaltspflicht nicht «schuldhaft» verletzt hätten.

Einsatz laut Richter gerechtfertigt, legitim und verhältnismässig

«Man kann den Polizisten nichts vorwerfen. Die Festnahme war gerechtfertigt, legitim und verhältnismässig», sagte der Gerichtspräsident. Der Herz-Kreislauf-Stillstand sei somit unabhängig von der Art und Weise der Positionierung des Opfers eingetreten, so die Richter.

Einschätzung SRF-Korrespondent Andreas Stüdli

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Wieder ein Freispruch, aber eine andere Bilanz

Der Prozess um den Tod von Mike Ben Peter hat für die Waadt eine besondere Brisanz. Weil in den letzten Jahren insgesamt vier dunkelhäutige Personen nach Polizeieinsätzen oder in Gefängnissen gestorben sind. Diese Fälle haben Proteste hervorgerufen. Auch beim zweitinstanzlichen Prozess demonstrierten wieder mehrere Dutzend Menschen gegen Gewalt und Rassismus in den Reihen der Polizei.

Erneut sind die sechs Polizisten, die den Nigerianer auch dann noch in der Bauchlage hielten, als ihm schon Handschellen angelegt worden waren, freigesprochen worden. Weil sie angesichts der Gegenwehr des Mannes verhältnismässig gehandelt hätten, sagte der Gerichtspräsident.

Anders als im erstinstanzlichen Prozess vor dem Bezirksgericht Lausanne ist das Kantonsgericht diesmal der Sache besser auf den Grund gegangen. Es hat nicht nur die Anklage wegen fahrlässiger Tötung geprüft, sondern auch den Straftatbestand des Amtsmissbrauchs. So bleibt mit der kritischen Haltung des Kantonsgerichts diesmal nicht der Eindruck, dass die Justiz wenig Aufwand betrieben hat, um die schweren Vorwürfe abzuklären. Die Proteste gegen die Polizei werden in der Waadt aber weitergehen.

«Die Ursachen für seinen Tod sind multifaktoriellen Ursprungs», erklärten sie. Damit schlossen sie einen kausalen Zusammenhang zwischen der Art und Weise des Eingreifens der Polizisten und dem Tod des festgenommenen Nigerianers aus, so wie es 2023 die Vorinstanz getan hatte.

Weiterzug wahrscheinlich

Der Anwalt der Familie des Opfers, Simon Ntah, hatte eine Verurteilung der Polizisten gefordert. Seiner Ansicht nach haben die Polizisten bei der Festnahme unverhältnismässig viel Gewalt angewendet. Nach der Urteilsverkündung wollte er sich nicht äussern. Er hatte jedoch immer angedeutet, dass er den Fall bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weiterverfolgen würde.

Die Witwe des Opfers äusserte sich hingegen, als sie das Gerichtsgebäude verliess. «Ich fühle mich sehr schlecht. Wir wollen Gerechtigkeit für meinen Mann, die Familie und meine Kinder (...). Die Polizisten wissen, dass sie falsch lagen», sagte sie den Medien.

Audio
Archiv: Berufungsprozess gegen Polizisten im «Fall Mike»
aus Rendez-vous vom 01.07.2024. Bild: Keystone/Valentin Flauraud
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SRF 4 News, 8.7.2024, 16 Uhr ; 

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