Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

missen, verb.

missen, verb.
aberrare, carere, desiderare.
1)
ahd. missan, mhd. missen; ags. missan; fries., altn. missa; im goth. und alts. nicht überliefert, wol aber sicher als missjan, missian vorhanden gewesen; bildung von dem adjectiv der goth. stammform missa-, erhalten in den zusammensetzungen missaleiks, verschieden, missa-qiss verschiedene rede, wortstreit, und mit üblerem sinne missa-dêds fehlthat, missethat, missa-taujands sünder (vergl. dazu unten unter misz-), ahd. als missi, verschieden, ungleich (Otfrid 5, 25, 80) für sich noch erscheinend (das mhd. mis, gen. misses hat jüngere bedeutung fehlend, mangelnd); missan demnach zunächst ungefähr sich verschieden halten, abweichen, in solchem sinne erscheint es in der älteren sprache, selbst nhd. noch.
2)
missen, abweichen von einem ziele, mit dem gen. desselben; so beim schieszen, altnord. missa skotsins Möbius gloss. 302; mittelnd. missen Schiller - Lübben 3, 101ᵇ, auch engl. to miss weg und ziel verfehlen, wie ags.:
miste mercelses   and his mæg ofscêt,
brôđor ôđerne,   blôdigan gâre.
Beowulf 2440;
mhd. Cupîdô, dîn strâle
mîn misset zallem mâle.
Parz. 532, 11;
auch nhd. noch mit gen., verfehlen, in bezug auf den weg:
ein bilgrim gieng durch einen wald,
was dick und wuͤst, gar ungestalt, ..
des rechten weges er da miszt.
B. Waldis Esop 4, 64, 5;
sonst absolut oder mit präp.: das alles eben an das ort, oder die stat, do es hin gehört, recht verfasset, und nicht in stellunge der worten gejrret oder gemisset werde. L. Thurneiszer von probierung der harnen 65;
wie es doch zugang, das vor zeit
solch glert, auch weis und trefflich leit
so wiest handt gfelt, gemisd und geirrt.
erklärung der archidoxen 121;
in der formel es misset einem schlägt ihm fehl, vergl. ostfries. dat misde hum gieng ihm fehl, gelang ihm nicht. ten Doornkaat-Koolman 2, 608ᵇ; niederd. dat kan nig missen (fehlt nicht). brem. wb. 3, 167;
der edel furste von Braunschweig
der tete auf die sache so groszen vlit (fleisz),
er meinete, es solte im nicht missen.
Liliencron volksl. 2, 327, 23;
im mnd. geht die bedeutung von missen geradezu auch auf sittliches fehlen, sündigen (Schiller-Lübben a. a. o.), was in der neueren sprache nicht mehr der fall zu sein scheint; engl. aber to miss, einen fehltritt thun, fehlen, miss, fehler, irrthum, versehen.
3)
missen, mit acc., einer sache verlustig gehen, sie verlieren, wie nd. missen verlieren, wer sall dat missen, wer soll es verlieren, wem soll es abgehen? Dähnert 308ᵃ, altnord. missa (Möbius 302), engl. to miss verlieren: aber sie schlugen sich wider durch, so das sie fünf mann misseten und von den feinden zwanzig neben ihrem hauptman im laufe blieben. Schütz Preuszen 22; liesz dem chan sagen, dasz er entweder desselben kopf haben oder seinen eigen missen wolte. Olearius pers. reiseb. (1696) 236;
die sternen die wir sehn das sind der augen stralen,
von denen werden wir verführt zu vielen mahlen,
dann miszt uns der compasz, dann missen wir die luft,
dasz wir in groszer noth gerathen unverhofft.
Opitz 2, 86;
wie kam es, dasz, da Job hatt alles eingebüszet
was jhm ergetzlich war, dasz er sein weib nicht misset?
es steht nicht deutlich da, warum sie übrig blieb.
Logau 1, 31, 8;
vereinzelt auch noch in der neueren sprache:
er miszt, urplötzlich, besinnung und odem.
Pyrker Tunis. 1, 181.
4)
missen, einer sache verlustig sein, ihrer entraten, sie nicht haben; mit gen.:
der karge rîche vert von hûs
in purpur und in bisse;
des wænet er daʒ er niht misse
glanzer werdekeit
durch sîn liehteberndeʒ kleit.
K. v. Würzburg 380, 63 Bartsch;
der luft, feuers, wassers und brots kan niemand missen, aura, igne, aqua et pane carere nemo quiverit. Stieler 1281; ich musz jetzo meines vaterlands missen, exulare modo a patria cogor. ebenda;
man kan der wissenschaft, die thöricht ist, wohl missen.
Rompler 233;
auch im folgenden ward wol noch der gen. gefühlt:
mein alles wird nun nichts. was wird doch endlich drausz?
wer (wäre) eins doch übrig noch, so wolt ich alles missen.
Fleming 612;
mit gen. der person: ich kan deiner wol missen, te utique carere pulchre possum. Stieler 1281;
(ich könnte) tempel lieber der zerstörung,
eh ich ihrer miszte, weihn.
Bürger 75ᵃ;
bevorzugt ist in der neueren sprache der acc., in bezug auf dinge:
fürstin, der euch denkt zu preisen, unter denen die euch kennen,
musz die schuld nothwendig haben, dasz er nicht kunt alles nennen:
wer euch wil bei denen loben, die vorher nichts von euch wissen
(derer wenig ich vermuthe) wird den glauben müssen missen.
Logau 3, 150, 77, d. i. wird keinen glauben finden;
warum (spricht der maulwurf) soll ich allein das glück zu sehen missen?
der mensch sieht, ich bin blind.
Lessing 1, 171;
der kunst bestimmung ist, und war, und wird es sein,
vom Weichselstrome bis zum Rhein,
nach brod zu gehn, um schutz sich zu bewerben,
zu missen, was sie liebt, zu wählen, was sie haszt.
Gotter 1, 280;
den letzten süszen trost im sterben — rache missen (keine rache nehmen können).
2, 358;
zum tempel laszt sie nicht!
verächter eines lichts, das sie bis jetzt noch miszten,
entweihen könnten sie die feier unsrer christen.
382;
nie möcht ich die uhren missen,
und auf meinen weiten gängen
will ich allenthalben wissen,
wo doch wohl die glocken hängen.
Tieck Octavian. 17;
das glück der erde miss ich gerne,
und blick, ein märtyrer, hinan,
denn über mir in goldner ferne
hat sich der himmel aufgethan.
Uhland ged. 27;
von personen: wie leicht (setzte er hinzu) kann Danae einen liebhaber missen! Wieland 2, 216; er (gott) bedarf ja meiner nicht. hat er nicht geschöpfe die fülle? éinen kann er so leicht missen. Schiller räuber 5, 2.
5)
missen, eines verlustes inne werden, ein fehlen empfinden, vermissen, mit gen.:
sâr siu thô heim quâmun,   sih umbibisâhun
sâr io thes sinthes:   sô mistun siu thes kindes.
Otfrid 1, 22, 20;
sie lieʒen sûchen der sie misten,
der dâ vil erslagen lac.
Ludwigs kreuzfahrt 7461;
verware diesen man, wo man sein wird missen, so sol deine seele an stat seiner seele sein. 1 kön. 20, 38; später mit acc.: ich misse am gelde nicht einen pfennich, non obolum pecuniae desidero. Steinbach 2, 64; ich misse nichts an dem geld, summa pecuniae est integra, nihil desidero. Frisch 1, 665ᵃ; das wird niemand missen, hoc nemo sentiet deesse. ebenda;
einst misste man den fuchs (bei hofe).
Pfeffel (1802) 3, 82;
willkommen! so ruft der Greiner, willkommen in meiner haft!
ich traf euch gut beisammen, geehrte brüderschaft! ..
nur einen miss ich, freunde, den Wunnenstein: s ist schad.
Uhland ged. 362.
6)
mit gesteigerter bedeutung, so dasz mit dem innewerden des verlustes auch die empfindung des leides und die sehnsucht nach wiederkunft des verlorenen deutlich hervorgehoben wird (wie auch bei dem gleichbedeutenden vermissen und entbehren dieser nebensinn hervortritt); einzelne der unter 4 und 5 gegebenen beispiele können schon als an diese bedeutung anklingend gefaszt werden; mnd.:
isset wunder, dat ik mismodich bin,
de ik misse sodanen duren schat?
Reinecke fuchs 5053,
was Göthe übersetzt:
ists ein wunder, dasz mich es verdrieszt, den spiegel zu missen?
40, 172;
in bezug auf personen: indem etliche tausend unter dem herzog Narvas streitende, von den Mohren aber übel gehaltene Deutschen zu den Römern übergegangen wären, wodurch denn die Römer nicht alleine aus diesem gedrange errettet, sondern auch der abgang dieser tapfern leute kurz hierauf in der seeschlacht bei Drexana .. merklich gemisset (wurde). Lohenstein Armin. 1, 792ᵇ; mir aber wurde die jungfrau lieb für mein leben und wenn ich sie missen musz, will ich nimmer leben. Freytag ahnen 4, 165;
sagt, dasz der wald sie misse,
und dasz ihr schäfer stirbt.
E. v. Kleist (1765) s. 102;
eine christinn, die
in meiner kindheit mich gepflegt; mich so
gepflegt! du glaubst nicht! die mir eine mutter
so wenig missen lassen!
Lessing 2, 348;
als ein gesicht, der ähnlich, die ich misse,
nur gröszer von gestalt, als sie im leben war,
daher tritt durch die finsternisse.
Schiller zerstörung von Troja 129;
möcht ich die edeln freunde, die wir missen,
doch wohl erhalten wiedersehn!
Macbeth 5, 13;
soll ich dich gleich, geliebte, missen,
wirst du mir doch nicht ganz entrissen.
Göthe 1, 48;
in bezug auf güter und gutes: so hat mich die erfahrung gelehrt, was ich nicht um vieles missen möchte. Göthe 19, 287; konnte keiner der vortheile gemiszt werden. Schiller hist.-krit. ausg. 8, 261;
hier miss ich nun in fremden gränzen
glück, ehre, vaterland und ruh.
wie? hat des schicksals tyrannei
sogar die thränen dir entrissen?
weh dir! auch ihren trost zu missen!
Gotter 1, 223;
himmel, sei keinem gnädig, der da lebt,
wenn Salisbury bei dir erbarmen miszt!
Shakesp. Heinrich VI, 1, 1, 4;
das kleinod, das ihm kraft verliehn,
muszt er mit schmerzen missen.
Uhland ged. 342.
7)
missen, reflexiv, sich missen, sich enthalten: sie sollen diesz zu thun gänzlich sich missen. Wirzburg. verordnung von 1623 bei Schm. 1, 1672 Fromm. vergl. sich entbehren th. 3, 494.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 12 (1884), Bd. VI (1885), Sp. 2259, Z. 21.

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Zitationshilfe
„missen“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/missen>.

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