Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

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verrücken, verb.

verrücken, verb.
von der bisherigen stelle fortrücken, mhd. verrucken, verrücken, mnd. vorrucken, ahd. weisz Graff 2, 435 einen beleg aufzuführen für farrukjan aus Boethius übers. d. Org. d. Arist. zusammensetzung mit rücken, dessen bedeutung durch ver verschärft aber nicht verändert worden ist.
1)
intransitiv, wegrücken, weggehen:
man nant den selben herzogen
Reinfrit von Brûneswîc,
sîn fuoʒ ab rehter êren stîc
nie verruhte umb ein hâr.
Reinfrit v. Braunschweig 111 Bartsch;
nhd. hätt sich der churfürst von Sachsen entschlossen auf morgen seinen weg anheim zu nehmen .. so hätt er sich entschlossen mit dem churfürsten zu verrücken. Baumgärtner bei Melanchthon 2, 378 Bretschneider; dasz ihr, gott hab lob, allda ankommen und fürder nach Augsburg zu verrucken bedacht. Badehorn ebenda 7, 932; ann dreizehnden tag januarii soll keis. maj. von Heilbrunn gen Ulm verrückt sein. Melanchthon 6, 384; nun so sy mutwillig genuͦg geweszt, sind sy dannen verruckt. Wickram rollwagenb. 26; es sind erst nächten etliche junge gesellen hie verruckt. 96 (26); aus teutschen landen .. verrucken. Druffel 3, 66; in frühern zeiten würde ein solches verhältnisz mich sehr verwirrt, ja mir vielleicht den kopf verrückt haben; nun aber war ich bei allem was mich umgab, sehr gelassen. Göthe 19, 308; ich habe weder jugend noch weichheit genug um mich in diesen charakter zu finden; nur eins weisz ich leider: das gefühl das Ophelien den kopf verrückt, wird mich nicht verlassen. 178;
ich weisz nicht, welcher fall dir das gehirn verrückt
und deinen muntern geist in eigensinn erstickt?
ist der keiser von Hall auf die Naumburg vorruckt. Sastrow 2, 3; (er ward) in der statt in ein haus vorwiesen, darin ein alter man zu bette in agone mortis lag, vormeinent, er darauf von dannen vorrucken solte. 2, 42; dasz sich die f. gn. bald aufmachen wolten und bei tag und nacht sich gen Liegnitz aufs haus einstellen, auch von dannen nicht verrücken, bis auf ihro kurf. gn. ferner anordnung. Schweinichen 1, 83; dasz herzog Friedrich von dannen nicht verrücken sollte (nicht fortziehe). 2, 45; also lassen i. f. gn. den Muschelnitz durch mich bestricken, aus der stadt nicht zu verrücken bis auf fernern bescheid. 2, 124; mit einer armada verrücken. Fronsperger kriegsb. 1, 133ᵇ; dasz wir hie (aus dem lager) noch lang nicht zu verrücken willens seyen. Kirchhoff milit. disc. 189; zuvor und ehe ausz einem altem läger auffgebrochen und in ein anders und neuwes läger verruckt wirdt, rahtschlaget ein feldherr. 99; die läger, da man ein zeitlang nicht ferners verrücken wil. 140; (Pythagoras lehrte) das der menschen seelen in die thier und das vieh verrucken und verhausen. Fischart bienenk. 120ᵈ; dan die Vendigni sind in Rhaetiam verrucket und haben daselbst die stadt Vendignum erbawet. Dilich 1, 14; darauff (kaiser Karl) in Hessen nacher Franckenberg unnd von dannen auff Thüringen verruckt. 2, 98; wann ich dann domalen vielleicht wegen (der) angefangenem sterbensgefahr ... von dannen verrücket. Weim. staats-archiv (Gera) 1612; ich war vorige nacht ausz müdigkeit beydes von sorgen und dem wege so hart entschlaffen, dasz ich nicht erwachte bisz die mutter der gestirn, die nacht, verruckt war und die schöne morgenröthe anfieng sich und zugleich alles mit ihr zu zeigen. Opitz 2, 246;
erwelten alda zu mal
einhelligklich mit einer wal
den frommen glerten mann nach dem .. Leonem ..
nach dem keyser Ott widerumb
verrucket heim in teutsche landt.
H. Sachs 2, 3, 166 (8, 650, 21);
nun wöllen wir gehen zeigen an,
auff das sich rüste iederman.
auff heint wöll wir verrucken spat
raisen zu den könig zu Gatt.
3, 1, 701 (10, 269 Keller).
ein bildlicher gebrauch ist hier sehr beliebt, die zeit verrückt, vergeht, besonders particip.: als zu verruckten tagen e. k. mt. wir armen ein supplication oberantwurdt. urk. Max. (Chmel) 283; das nehst verruckte jahr. reichstagsakten 1524 § 21; auf St. Margaretentag nechst verrückt. reichstagsabschied 1524; wie er verruckter zeit bei euch gewesen. Albrecht in Melanchthon beil. z. ep. 57, 195 Faber; wie die erfarung verruckter zeit clar hat zu erkennen gegeben. staatspap. Karls V. 467; auf St. Gallen tag nechst verruckht. münzverordn. 1524 im eingang; in nechst verruckter Frankfurter vastenmesz. Reuchlin augensp. 1, a; weil m. Webers, so den 18 october verrücktes 1613 jahres verstorben, hinterlassene wittbe die beyde quartal ... eingehoben. Carpzow jurisprud. eccles. 205.
2)
transitiv. hier tritt gern die nebenbedeutung vor 'aus der richtigen lage in eine falsche bringen': das er von dannen nit scheyden wölt, noch den läger verrucken. Aimon bog. 2; mich bedunkt ich hab euch den helm verruckt. bog. P 1; der mutter verlassenschaft getheilet, so noch vorhanden und nicht verrücket gewesen. Schweinichen 2, 186; die genge winden, schlingen und stürtzen sich in der erden wie ein schlang und werffen oft ein haken und einer verrückt den andern. Mathesius Sar. 44ᵇ; so gehen wir umb um schantzen, prassen, rasen, dantzen, .. so gibts dann kleyderbrentzen und ohrenseusen; ... scharmützeln mit der wechter igelskolben, fenster einwerffen und glasiren, die benck verrucken, kerch verführen, die glocken leutten, schellen abschneiden. Garg. 90 (1590); die alten marcksteine sind nicht zu verrucken. 29; klimmet er zum höchsten hausz hinauff wie ein marter, flog darnach so hoch wider herab mit solcher geschicklichkeit der glider und gleichwagung des leibes, dasz er vom fall, sprung oder fuszsatz inn keinen weg beschwert noch verruckt ward. 348; im stechen verlor ers immer, es wer dan die senn zerstochen, verruckt oder zerprochen: oder das schlosz hett gelasen oder ein wind hett jhm angeplasen. 351; damit ein beständig regulativ auf hundert und mehr jahre vorhanden sey und niemals .. ein rain und stein im felde verrucket werde. Weim. staatsarch. 1726; weilen die acker wegen der neuen raine, soferne man sie nicht messen lassen will, nothwendig um ein gemerkgen verrücket werden müssen. ebenda; man verrücke die züge des gesichtes, man verpflanze und verwechsele die glieder mit und ohne auge musz man grausen. Herder lit. u. kunst 11, 322 (1821); seit 18 tagen bin ich nun wieder in deiner alten stube, in der nichts als der ofen verruckt ist, der nun aus dem kleinen hinteren zimmer eingeheitzt wird. Göthe an Knebel 189; durch die abermalige ankunft von fremden prinzen werden unsere theater- und tanzlustbarkeiten verruckt und gehäuft. an Schiller 154; partic.: luxatus, dem eyn glid verruckt ist. Dasyp. 124ᶜ; luxata membra, verruckte glider. 124ᶜ; alma aber heisze (im hebräischen) eine junge dirne. nu möge wol ein junge dirne ein verruckt weib sein und eins kinds mutter heiszen. Luther 2, 241ᵇ; die grünen blätter bekommen auch wol den verruckten gliedern. Tabernaem. 1158; die stunden des schlafens und wachens, des essens und trinkens, des geselligen zusammenseins waren verruckt und umgekehrt. Göthe 20, 300;
verrücktes spiel der zeit!
mein vor beliebt gemach wird itzt zur einsamkeit
und öder wüsteney.
Lohenstein Agripp. 78, 111;
des herren tempel ward bis auf den grund verrückt.
hüttenmännischer kunstausdruck: lagerstätten verrücken, eine änderung in der richtung des streichens oder fallens herbeiführen. Veith 533; gedingstufen verrücken, das als gedingstufe eingehauene zeichen herausschlagen. 480; von menschen gesagt:
da ward Dominicus verruckt,
mit haut und haar in himmel gzuckt.
Fischart dicht. 1, 205, 2881 (Kurz);
bildlicher gebrauch: er möcht wünschen, das alle glocken federn weren und der schwengel fuchsschwäntzen, weil sie im das metzische geschütz im eingeweid des hirns verursachten und gar stül und bänck darin verruckten, wenn er seine carminiformliche vers solt schneiden. Garg. 300 (1590); sie (Lais) ist ein gefährliches geschöpf. sie wird manchen kopf verrücken, der vorher recht stand, manchen narren noch närrischer machen und manchen vollen beutel leeren. Wieland 33, 251; seitdem ihr die phantasien den kopf verrückt haben, traut sie niemanden, hält alle ihre freunde und liebsten ... für schattenbilder und von den geistern untergeschobene gestalten. Göthe 11, 44; übrigens giebt es noch immer menschen genug, die dergleichen dinge anstaunen und verehren, weil das publicum es jedem dank weisz, der ihm den kopf verrücken will. in Zelters briefw. 1, 341; sie ist unschuldig: der offizier hat ihr den kopf verrückt. Lenz 1, 284; darumb secht jhr wie ungern sie sich umbwenden auff dasz sie das schlangenwindig hals oder kalbskrösz von urochsen .. oder die kröszleist unnd das gespannt kragerems nicht verrucken. Garg. 216 (1590); endlich erfuhre ich, dasz meine angenommene mutter sich zwar noch bey der armee auffenthielte, hingegen aber alle meine bagage ... verlohren, welches mir den compasz gewaltig verruckte. Simpl. 3, 68, 17 Kurz; aber als ich solches ins werck zu setzen auszging, ward mir der compasz so verruckt, dasz ich unversehens unter die bayrische gerieth. 1, 436, 28 Kurz; wenn sie geneigt gewesen wär, ihren wittwenstuhl zu verrücken. Musäus moral. kinderkl. 3; wirklich war sie von so seltner schönheit, dasz sie auch einem verwöhnten frauenkenner das concept verrücken konnte. Heyse kinder d. welt⁴ 1, 100; bildlich:
vil sint die schyeszen über usz,
eym bricht der bogen, senw und nusz,
der duͦt am anschlag manchen schlypf,
dem ist verruckt stuͦl oder schyppf,
dem losszt das armbrust so ers ruͦrt.
Brant narrensch. 75, 13 Zarncke;
jr sönd ...
sin guten nutz nit underdrucken,
ouch weder gold noch müntz verrucken.
trag. Joh. 54;
sie hat durch arge list mich auf die seite bracht
als sie, durchlauchtigster, ihm das verzeichnisz schickte
der schätze welche sie vor in geheim verruckte.
Lohenstein Cleop. 117, 478;
die zeit, der kleine punkt, den auch kein luchs ersieht,
verrückt den groszen bau des ganzen erdenballes.
der tod ists nicht allein,
der einem jüngling seiner art das ziel
verrückt. er hat der feinde mehr.
Lessing 2, 306;
bey gott! das hat doch wahrlich keine art!
das schicksal kann unmöglich wollen
dasz wir das ziel uns selbst so grob verrücken sollen.
Wieland Oberon 4, 62;
seltner wäre verruckt das ziel ..
ich könnte viel glücklicher seyn,
gäbs nur keinen wein
und keine weiberthränen!
Göthe 2, 275;
auch mir hat sie so manchen plan
verrückt, so manchen pöszen wahn
verleidet, ach, so manchen götzen
voll schadenfreude mir zerstört.
Gotter 1, 442;
aus seines stillen glückes grenzen
wird nur der weise nicht verrückt,
wird er geneckt, verfolgt, gedrückt,
so nimmt er seinen stab, zieht weiter.
1, 119.
3)
in übertragener bedeutung.
a)
intransitiv: so doch freilich daran uns gnug sein solt zu halten, das sie nach der geburt sey jungfrau blieben, weil die schrifft nicht sagt noch gibt, das sie hernach verruckt sey. Luther 2, 240ᵇ; zu der zeit lag nicht viel an der jungfrauschaft, weil aber zu unser zeit ein groszer eckel ist eine verruckte zu nehmen. br. 2, 516; die schrifft sagt, das Maria gottes mutter und jungfraw sey, das ist gnugsam beweiset, weil aber niemand beweisen kan aus der schrifft, das sie hernach sey verruckt, so sols auch niemand gleuben, sondern für eine jungfraw halten. 3, 523; ähnliche bedeutung des transitiven zeitworts s. unten.
b)
transitiv: wo ir aber nachlessig sein würdet, zu bessern eure verkerete buchdrücker, welche ... mit geld durch die Lutherischen verruckt sind ... so würden wir euch ... Luther 2, 186ᵃ; denn diese alle sind nicht gott, sondern teufels pfaffen, darumb was sie gelobt haben das haben sie nicht gott, sondern dem teufel gelobt, welchem kein gelübde zu halten ist, du woltest denn verrucken und zubrechen das gelübde des lebendigen gottes. 2, 20ᵇ; seid fursichtig das jr bey der einfeltigen lere Christi am lautern glauben und rechter liebe bleibt, das seine liste diese einfeltigkeit ewers sinnes nicht verrücke. 2, 117ᵇ; lasset euch niemand das ziel verrücken. Col. 2, 18; obs fehrlich sey, das man mitten in stedten kirchhöfe hat, denn ich weis und verstehe mich nichts drauff, ob aus den grebern dunst oder dampff gehe, der die lufft verrücke (in schlechten zustand bringe). Luther 3, 398; weil sie das tuto daselbs funden allein stehen, wolten sie damit umbgehen jres gefallens wie jene im Daniel mit Susanna und dasselbige verrücken und schenden mit falschem sinn. 3, 495ᵇ; denn wer hie gewissen macht, der verrückt den glauben, verleszt sich auf speise und tranck und kleider. 3, 525ᵇ; also sol man von sontag, ostern, pfingsten und dergleichen ordnung halten. denn die kirche hat den sabbat nicht verruckt oder auffgehoben, sondern gott hat selbst geleret, das wir .. nicht sollen verbunden sein zum gesetz Moisi. 6, 376ᵇ; auch bestimte ziel und zahlzeiten nicht verrucken. Kirchhoff milit. disc. 8; soden sie das fleisch wider auff und aszens, hattens in eynem kurtzen verruckt. H. Staden n 2; der ist ein rechter tyrann, dessen vorhaben, thun und lassen allein dahin zielet, damit er den gemeinen frieden und ruhe verrücke umb seiner wolfahrt und deren nutzen willen. Schuppius 557; ich gestehe und bekenne gern, dasz der zustand unsers liebsten vaterlandes teutscher nation durch das verderbliche kriegeswesen sehr verrücket und verderbet ist. 780; dessen unvergleichliche beredtsamkeit mein vorhaben verrückte. Felsenb. 2, 398; den kopf, das hirn verrücken: fieber, welches meinen verstand verrückte. 1, 404; alter und wahnwitzige träume von ruhm und ehre haben ihm das schwärmerische gehirn verrückt. Lessing 2, 472; was die falsche bescheidenheit oder gar eine demüthige heuchelei hier verschweigt, das entdeckt und übertreibt dort eine kecke lästerzunge desto ärger. so wird endlich der sinn der menschheit verrückt und das moralische auge geblendet. Herder phil. u. gesch. 10, 260 (1821); verrückt, verstellt:
mit weinen, mit geseufftz und mit verruckter sprache,
sagt dieses jungfräulein her ihre elende sache.
Dietr. v. d. Werder Ariost 13, 31, 1;
die leidenschafften der menschen sind es eben, was mir meinen plan, wenn ich einen mit ihnen hätte, alle augenblicke verrücken würde. Wieland 25, 11; nun war aber durch ein unerwartetes ereignisz der ganze zustand verrückt; die verhältnisse, die sonst sich freundlich in einander schmiegten, schienen sich nunmehr anzufeinden. Herder phil. u. gesch. 22, 53;
und solten dan sich dieser zucht
vermeinen sich zu rötten durch die flucht,
und von sich die straff zu verrucken.
Weckherlin 84 (ps. 21, 13).
selten ist das object eine person (heute dafür das wort berücken gebräuchlich): denn also helt sich die christenheit auch, das sie den breutigam Christum, als jren herrn und heubt in allen ehren hat, und ist jm gehorsam und unterthan in allen dingen das ist: sie bleibt im reinen glauben, lebt nach seinem gebot und thut alles was sie weis das er haben wil, es sey denn, das der teufel dazu kome und die braut verrücke. Luther 6, 357; aber euch nit zu verrucken oder zu verzucken (dan die zeit sind gefärlich) so antwortet mir: seit ihr frisch? Garg. 231. noch sei bemerkt, dasz in Luthers sprache eine jungfrau verrücken, eine jungfrau schwängern heiszt: wie ein jungfrau leiblich rein und unverruckt ist, also ist die seel geistlich durch den glauben unverruckt, durch welche sie Christus braut wird. Luther 2, 329; (der papisten lehre) ist ein unverschampt bild der geistlichen unkeuschheit, daran die seelen lernen auf werck bauen und verrücken daran die jungfrewliche keuscheit des reinen christlichen glaubens. 2, 126ᵇ; nu ist in der ganzen schrifft, menschen lehre halten, genennet unkeuschheit treiben .. also dasz diese leibliche unkeuscheit des Baal Peor mag nichts anders bedeuten denn die geistliche unkeuscheit, durch welche die seelen verrückt und befleckt werden. 2, 126. in der heutigen preuszischen mundart: einen verrucken, vorwürfe machen: den hat er gut verruckt, den hat er gehörig abgekanzelt. Frischbier 2, 439.
4)
reflexiv, sinnlich, sich an einen andern ort begeben: ich .. sollte mich von dannen nicht verrücken. Schweinichen 2, 10; endlich als er sich von Stargard nach Wittenberg, die orientalischen sprachen desto besser zu fassen, verrückete, hat er sich so berühmt gemacht. Micrälius altes Pommern 4, 629; (er gab) einigemal das zeichen, dasz sie mich fahen sollten, deszwegen ich mich nicht aus meiner stellung verrückte. Göthe 34, 259; und doch würde das blatt sich oft verrücken, wenn nicht zwei hände sich an der arbeit betheiligten. Heyse kinder d. welt² 3, 208;
des witzes holder ernst drang aus der augen nacht,
der mund voll röth und zucht verrückte sich zum küssen
als spräch er: disz kan auch ein doppelt leid versüszen.
bildlich: brachte mich auch noch die halbe nacht um meinen ruhigen schlaf. darüber verrückte sich meine ganze lebensordnung. Thümmel 3, 129.
5)
obwol wir das partic. prät. bei den einzelbedeutungen schon kennen gelernt haben, bedarf die bedeutung 'geistesgestört' noch näherer ausführung, da ein vielgebrauchtes adjectiv dadurch ins leben trat. dieselbe schlieszt sich an bedeutung 2 an. verrückt ist also von der bisherigen stelle weggeschoben mit der nebenbedeutung 'von der richtigen an eine falsche stelle', daher übertragen 'thöricht, verwirrt, irrig': ein vernünftiger geht also zu solchen betrachtungen über das allgemeine mit einer art von blödigkeit: er gibt seine ansichten für nichts als erscheinungen an .. sonst können freilich alle seine beobachtungen gesichte eines verrückten kopfes scheinen. Herder lit. u. kunst 2, 146 (1821); so erklärte ein solcher richter in dem falle, da eine person, die weil sie zum zuchthause verurtheilt war und aus verzweiflung ein kind umbrachte, diese für verrückt und so für frei von der todesstrafe. denn, sagte er, wer aus falschen prämissen wahre schlüsse folgert, ist verrückt ... folglich war sie verrückt und, als eine solche, der todesstrafe zu überheben. Kant 10, 229; was nun aber beim ausbruche der verrückten anlage ... dem gemüthe zuerst in den wurf kommt .. darüber schwärmt nun der verrückte fortan vorzüglich. 234; das irrereden der wachenden im fieberhaften zustande ist eine körperliche krankheit und bedarf medicinischer vorkehrungen. nur der irreredende, bei welchem der arzt keine solchen krankhaften zustände wahrnimmt, heiszt verrückt. 288; der vater sah ihm mit zweifelndem blicke nach und murmelte: nun ist er gar verrückt geworden. Tieck 17, 63;
verruchter! hebe dich von hinnen
und nenne nicht das schöne weib!
bring die begier zu ihrem süszen leib
nicht wieder vor die halbverrückten sinnen!
Göthe 12, 174;
mein armer kopf
ist mir verrückt,
mein armer sinn
ist mir zerstückt.
12, 177;
gestehen wir, es sind verrückte stunden,
und Luna wiegt sich ganz bequem
an ihrem platz so wie vordem.
41, 153;
von menschen und menschenähnlichem: ein verruckter grillenfänger. Weise hauptverderber 46; da guckte ein tolles, bucklichtes weib aus dem fenster, hiesz mich fortgehen ... ich sagte darauf: verruckter buckel! ist niemand anders zu haus als du ... Göthe 34, 117; auffallend bleibt es, da die städte von Balck und Bannian so nah an einander lagen, hier die verrücktesten götzen in riesenhafter grösze verfertigt und angebetet zu sehen, indessen sich dort die tempel des reinen feuers erhielten. 6, 25; ich bin nicht in sie verliebt, ich bin in sie verrückt. Hippel lebensl. 2, 230;
mein fremder mann! als mensch bist du entzückt;
doch unter geistern scheinst du wohl verrückt.
Göthe 41, 132.
aus dem adjectiv entwickelt sich ein häufig angewandtes substantiv: dasz es eine linie gebe, jenseit welcher der sterbliche, wie ein verrückter, der vom mittelpunkt seiner stärke hinweg ist, aus tiefe in tiefe stürzt und aus ungemach in ungemach sich wälzet, dies ist nicht nur Herodots bemerkung, sondern die lehre aller zeiten und völker. Herder lit. u. kunst 11, 405; das äuszerste der ungereimtheit oder des betrugs im wahrsagen war wohl dies, dasz ein verrückter für einen seher gehalten wurde. Kant 10, 198; die eigenschaft des gestörten, nach welcher er ohne einen besonders merklichen grad einer heftigen krankheit im wachenden zustande gewohnt ist, gewisse dinge als klar empfunden sich vorzustellen, von denen gleichwohl nichts gegenwärtig ist, heiszt die verrückung; der verrückte ist also ein träumer im wachen. 14; derjenige, welcher von den gütern redet, die er ehedem besessen haben will ... ist ein verrückter in ansehung der erinnerung. 17; dieser (der fanatiker) ist eigentlich ein verrückter von einer vermeinten unmittelbaren eingebung und einer groszen vertraulichkeit mit den mächten des himmels. 16; auf dem fusz dieses arguments möchte es wohl leicht sein, alle verbrecher für verrückte zu erklären. 229;
ihr sagtet selbst, dasz er von sinnen war.
die worte eines rasenden, verrückten
beweisen nichts.
Schiller hist.-krit. ausg. 12, 575 (M. Stuart 5, 13).
adverb. ich besorge .. das er (ein brief Luthers) möht etwa verrückt auskommen und mir alsdann sonst und so gedeutet werden. Luther 5, 72ᵇ. zum schlusse bemerke ich, dasz das wort verrückt in der bedeutung 'geistesgestört' noch nicht sehr alt ist, vielmehr ist in dieser bedeutung das wort bei Stieler noch nicht. bei den ableitungen findet sich verrückung des verstandes, delirium. Stieler 1571; auch Krahmer kennt es: verrückt im kopf. 244; bei Steinbach (1725) endlich findet sich er ist verrückt, insanus est. 275. Frisch weist es wieder nicht auf. unsere literarischen belege führen bis in die zweite hälfte des 17. jahrh. früher kommt das wort auch schon in der bedeutung vor, aber nur als bild empfunden. dies sieht man daran, dasz 'im kopf, im hirn' u. ä. dabeistehen musz: bald zu dem eintritt ersah sie herr Ehrenwerd Lobkund und erschrack gleich als er sie also entstelt sahe .. und meint es weren etwann seine verruckte fasznachtsbutzen, die inn der mommerei giengen. Garg. 291 (1590); daher der fürst und andere gedachten, er wäre vielleicht im kopff verruckt. Simpl. 3, 314, 33.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 6 (1895), Bd. XII,I (1956), Sp. 1020, Z. 12.

verrücken, n.

verrücken, n.
subst. infinitiv des vorigen: ja das ich geschweig des verreisens, migrirens, verruckens unnd auffbrechens etwann gantzer länder unnd völcker von wegen plagung der mäus und schnacken. Garg. 43; das weiblein sprach, der nutz, so ausz fürwitz, vielen hin und wieder mit häuszlicher wohnung verrücken, wer nit viel erfahren. Kirchhoff wendunm. 4, 323 Österley; s. verrückung.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 6 (1895), Bd. XII,I (1956), Sp. 1025, Z. 8.

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Zitationshilfe
„verrucken“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/verr%C3%BCcken>.

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