Deutsches Fremdwörterbuch
habituell
Adj. und Adv., seit Anfang 18. Jh. nachgewiesene Entlehnung aus gleichbed. frz. habituel (< mlat. habitualis ‘geneigt, etwas zu tun’, zu habituari ‘mit einer bestimmten (körperlichen) Eigenschaft versehen, mit etwas behaftet sein’, vgl. habitare ‘zu haben gewohnt sein; leben, (be-)wohnen’, Frequentativ von habere ‘halten, haben, besitzen’; → Habitat, → Habitus), früher vereinzelt in der Schreibung habituäl und in der (frz.) Form habituel.
Bildungsspr. in der auf menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen bezogenen Bed. ‘(durch regelmäßige Wiederholung und Kontinuität) zur Fertigkeit, Gewohnheit, zum Bedürfnis und damit quasi zur zweiten Natur geworden, zum Charakter, Wesen gehörend, wesensgemäß; angeboren’, z. B. habituelle Handlungen, Gewohnheiten, Handhabungen, das habituelle Misstrauen der Amerikaner gegen Staatseingriffe, hinter der habituellen Behäbigkeit versteckt sich ein brillanter Witz, das passt nicht zu seinem habituellen Verhalten, ein habituell geübter Pragmatismus, ihre Neigung ist mittlerweile habituell geworden, das Hinterfragen ist ihm zum habituellen Reflex geworden, er ist habituell konservativ, meist eher pejorativ bezogen auf Personen (s. Belege 1749, 1806; vgl. notorisch) und unerwünschte Verhaltensweisen und Eigenschaften (s. Belege 1751, 1986; → chronisch b), z. B. habitueller Straftäter, das trügerische Lächeln des habituellen Verführers, habituelle Arbeitsscheu, Streit-, Trunksucht, habitueller Kokaingenuss, auch allgemeiner von wiederkehrenden Vorgängen und Sachverhalten ‘gewohnheits-/regelmäßig, (be-)ständig, fortdauernd; üblich, geläufig, gewöhnlich, häufig, oft’ (s. Belege 1800, 1811, 1971, 2005; vgl. kontinuierlich, permanent, traditionell), z. B. ein habitueller Anblick, eine habituelle Erscheinung im historischen Prozess, an unserem habituellen Treffpunkt, daneben fachspr. in der Medizin und Psychiatrie von gesundheitlichen Störungen ‘häufig wiederkehrend’ (s. Belege 1809, 1826, 2008), z. B. er wurde wegen seiner habituellen Kopfschmerzen vom Dienst befreit, habituelle Krankheiten, habituelle Verstopfung, die einseitig belastende habituelle Schlafposition, habituelles Erbrechen, (aus medizinerlat. abortus habitualis lehnübersetzt:) habitueller Abort ‘anlagebedingte spontane Fehlgeburt nach mindestens zwei vorherigen, ohne dass eine konkrete Ursache bekannt wäre’, in der Psychologie speziell ‘durch ständige Wiederholung bestimmter Fehlhaltungen und -einstellungen gelernt, erworben, manifest, verhaltenseigen geworden’ (s. Belege 1909, 1954, 1990), z. B. habituelle Panikattacke, das habituelle Schulterzucken; bis heute konkurrierend mit bereits im späteren 17. Jh. aus mlat. habitualis (s. o.) entlehntem seltenerem gleichbed. habitual Adj. und Adv.
Dazu bereits seit früherem 16. Jh. selten die häufig in der adj. verwendeten Part.-Perf.-Form habituiert bezeugte verbale Ableitung habituieren V. trans. (mit den selten belegten fachspr. subst. Ableitungen Habituation, Habituierung und Habituisierung), weitgehend verdrängt von seit späterem 19. Jh. nachgewiesenem habitualisieren V. trans. ‘etwas gewohnheitsmäßig an-, übernehmen, zur festen Gewohnheit machen/werden; jmdn. (an etwas) gewöhnen’ (bes. im psychologischen und soziologischen Zusammenhang; → etablieren; vgl. institutionalisieren, → Institut, konditionieren), vereinzelt auch reflex. (vgl. sich etablieren), z. B. der einst exotische Joghurt ist längst von der Masse habitualisiert worden, diese Praxis hatte sich bald habitualisiert, häufig attr. verwendet in der Part.-Perf.-Form habitualisiert, z. B. das habitualisierte Verhalten der Fernsehzuschauer, habitualisierte kulturelle Praktiken, Verrichtungen, Entscheidungen, mit dem seit Anfang 20. Jh. bezeugten Verbalsubst. Habitualisierung F. (-; -en) (vgl. Konditionierung); seit Ende 18. Jh. die subst. Ableitung Habitualität F. (-; -en), bes. im Bereich der (psychiatrischen) Medizin, Sozialethik und Philosophie für ‘Manifestation einer (chronischen, psychischen) Krankheit’ und ‘wesens-, naturgemäße Gewohnheit’.

Belege

zu habituell (28)
Westphal/Hocheisen 1713 Wesen d. Seelen 43
ich vermeynte, es könte hierdurch gar leicht der Lapsus Adami, und wie in locum habitum rectitudinis eine solche Verderbniß und habituelle Corruption gekommen;
Meier 1749 Gedancken v. Gespenstern 17
Ein verrückter Mensch ist ein habitueller Phantast, oder er besitzt eine Fertigkeit, alle seine Einbildungen im Wachen für Empfindungen zu halten;
Bengel 1751 Brüdergemeine (Zinzendorf, Materialien II 10,539)
eine habituelle Unbesonnenheit gegen alles, was ihn auf andere Gedanken bringen sollte;
Dressler 1777 Theaterschule 116
jene gemeine Regeln der Schauspiel-Kunst, deren Erfüllung und Befolgung man sich noch nicht habituel gemacht [hat];
Wieland 1788 Lucian I 20
von einer gewissen habituellen Schwazhaftigkeit;
Moritz 1793 Grammat. Wb. I 243
Habituel. Jede Handlung, welche ein Mensch öfters verrichtet, sie sei moralisch gut, oder böse, wird ihm habituel, d. h. sie wird ihm leicht, er wird ihrer gewohnt, sie wird ihm geläufig;
Goethe 1797 Paralipomena (WA I 42.2,506 f.)
so wie er sich jenen andern beyden Tendenzen, die ihm theils habituell, theils durch Verhältnisse unerläßlich geworden, sich nicht ganz entzieht, sondern sie nur mit mehr Bewußtseyn und in der Beschränkung, die er kennt, gelegentlich ausübt;
ders. 1799 Diderots Versuch (WA I 45,249)
Übergang vom Manierirten, Conventionellen, Habituellen . . zum Gefühlten, Begründeten, Wohlgeübten und Liberalen;
ders. 1800 Weiber (WA I 18,283)
Sollte es nicht möglich sein, daß der habituelle Anblick von bellenden unvernünftigen Thieren auf die menschliche Generation einigen Einfluß haben könnte?;
Blöde 1806 Galls Lehre v. d. Verricht. d. Gehirns 148
der habituelle Dieb, dem das Stehlen nicht gerade aus natürlicher Neigung, sondern durch öftere Veranlassung zur Gewohnheit geworden ist;
1809 Journal d. pract. Arzneykunde XI 1,48
die Folgen der Störung der habituellen Erhitzung;
Reil 1811 Ges. kl. Schr. I 204
Einige Reize besonders, welche ich, da sie in beständiger Gemeinschaft mit uns stehen, habituelle nennen will, z. B. Luft, Wärme;
Kosegarten 1816 Funfz. Lebensj. 36
Daß es an einzelnen rohern Naturen nicht gefehlt haben werde, an verdorbnen Hauswirthen, habituellen Trunkenbolden, an losem Gesindel endlich, das nicht abließ, sich bey uns einzunisteln;
Puchelt 1826 System d. Med. I 78
Habituell werden die Krankheiten genannt, welche entweder nicht behoben werden können oder welche nicht entfernt werden dürfen, weil sonst grössere Übel zu befürchten wären;
Waibel 1830 Übernat. Gnade 8
Diese letztere Gnadenart geht . . in zwei Unterarten ab; nämlich es gibt habituäle, und dann wirkliche oder aktuäle Gnade. Die habituäle wird ferners . . entweder nur als formäl heiligmachend betrachtet; in so fern nennt man sie glatthin die heiligmachende Gnade;
1844 Brockhaus VIII 684
Habituell heißt alles, was durch Gewohnheit zu einer bleibenden Eigenheit oder zur andern Natur geworden ist;
Rümelin 1881 Reden III 7
diese verschiedenen Dispositionen zwischen habituellen Zügen und charakteristischen Merkmalen der Individualitäten;
Koch-Breuberg 1891 Jahre 17
wir, denen die Feldschlacht habituell geworden war, sahen den Dienst vor Paris immerhin als halbe Ruhe an;
Breuer/Freud 1909 Hysterie 61
das habituelle Wachträumen . ., womit der Grund gelegt wird zur Dissoziation der geistigen Persönlichkeit;
Th. Mann 1924 Zauberberg (W. III 865)
Die . . Faltenlineatur der hohen, weiß umloderten Stirn . . ausgeprägt durch die habituelle Anspannung eines ganzen Lebens;
ders. 1954 Krull (W. VII 369
) Auf nervöse Konstitution deutete sodann . . das habituelle Schulterzucken, das, wie es scheint, unbeherrschbar ist;
Kaupp 1971 Illustrierten 99
Man liest die Zeitschrift, welche den Ausschnitt und die Färbung der Wirklichkeit bietet, die man (in einer bestimmten Situation oder habituell) sucht;
Dunkell 1977 Körpersprache 128
Zu Beginn einer Liebesbeziehung . . treten die bevorzugten Schlaflagen, die habituellen charakterologischen Positionen . . oft weitgehend zurück (DUDEN 1999);
Zeit 25. 7. 1986
Das System bringt . . so etwas wie eine weit verbreitete habituelle „Schizophrenie“ hervor;
taz 30. 3. 1990
Doch zunächst kommt der Punkt, wo es erst einmal nur gefährlich wird, vor allem durch eine habituelle Abhängigkeit. Dann kann es sein, daß du regelmäßig zuviel trinkst;
ebd. 14. 1. 1994
Landstreicher, Kriminelle und andere habituelle Leistungsverweigerer;
FAZ 28. 11. 2005
des nationalistischen russischen Politikers, der seinen Schlaf habituell von mindestens drei Bodyguards bewachen läßt;
Zeit 21. 8. 2008
Die Ursache von „habituellen Aborten“ – mehr als zwei Fehlgeburten in Folge – ist bei vier von zehn Frauen ein fehlgeleitetes Immunsystem.
zu habitual (12)
Bail 1675 Theologia Affectiva (Übers.) 158
Die andere Abtheylung ist in die würckliche Sünd/ welche anderst nichts ist/ als ein würckliche Ubertrettung deß schuldigen Gesatzes/ vnnd in die habitual oder hinderlaßne Sünd/ welche gleichsamb die hinterlaßne Würckung der würcklichen begangnen Sünd ist;
Seckendorff 1687 Fürsten-Stat 163
Wo aber bey den Gebrechen der Natur/ auch habitual-Laster/ als Hochmuth/ Ungerechtigkeit/ Geitz . . und dergleichen/ zugleich anzutreffen/ da sind die Mittel dargegen schwer und gefährlich;
Müller 1715 Gracians Oracul (Übers.) 571
Wen demnach ein weiser mit bedacht in seinen entschliessungen und thaten eine veränderung trift, so ist solches mit nichten das laster der wanckelmüthigkeit, als welche, wie gesagt, eine habituale und mit unbedachtsamkeit verbundene unbeständigkeit oder ungewißheit des gemuoths ist, welche mit einer gäntzlichen irregularität derer thaten verbunden;
Müller 1733 Einl. in d. Philosoph. Wiss. II 568
Eben so ist das näheste mittel, sich in den stand eines gründlichen gemüthsvergnügens zu sezen, die habituale richtung unsers willens nach der richtschnur der von gott geordneten subordination der mittel, d. i. die tugend;
Spalding 1772 Predigtamt 73 f.
Wenn bey dieser Untersuchung erst der wahre Begriff von der Tugend festgesetzet wird, man mag sie nun habituale Liebe der Ordnung in dem ausgebreitetesten Verstande, oder Folgsamkeit gegen die Wahrheit, oder thätiges Verlangen nach allgemeiner Glückseligkeit empfindender Wesen nennen;
Stäudlin 1801 Lehrb. d. Dogmatik 607
Daher können auch, selbst unglaubig gewordene und kezerische Kirchendiener die Sacramente mit Erfolg ertheilen, nur muss die wo nicht actuale und habituale, doch habituale gute, dem Sacramente gemässe Absicht damit verknüpft seyn;
Stichert 1835 Hl. Geist 62
Außer dem allgemeinen Beistande Gottes, wodurch er die Seele zum Guten fähig macht, gibt es in der Seele der Gerechtgemachten auch einen Habitus der Gnade oder eine übernatürliche Qualität (= eine Beschaffenheit, welche Gott der Seele eingießt), damit sie gern und willig das schuldige Gute thue. Dieses Geschenk der habitualen Gnade aber ist nicht die Tugend selbst, sondern beide verhalten sich zu einander wie Ursache und Wirkung;
Kleutgen 1867 Theol. d. Vorzeit I 298
Weil es aber in ihm [Gott], da er durch sein Wesen erkennt oder vielmehr seinem Wesen nach Erkennen ist, kein ruhendes oder habituales Wissen giebt, aus dem das wirkliche Erkennen hervorgehe: so kann auch die Weisheit in ihm nicht Fähigkeit, weise zu erkennen, sie muß das weise Erkennen selbst . . sein;
1895 Grazer Studien I 72
Je nachdem diese Ab- und Zukehr als einzelne Handlung oder als beharrender Zustand in Betracht kommt, unterscheidet man die Sünde als die wirkliche (actuale) und gewohnheitsmäßige (habituale), den sündhaften Zustand;
Kanstein 1935 Gewohnheitsverbrecher 76
kurzschlußartig ausgelöste Entladungen, die sich periodisch wiederholen, kommen vor. . . Komplexe können sich finden, die dann oft den Anreiz zu habitual-kriminellen Handlungen, oft zur serienweisen Begehung (z. B. politische Verbrechen, Brandstiftungen) bieten;
Wallmann 1961 Theologiebegriff 71
So kann allein die Übersetzung der Theologie mit „Gottesgelehrtheit“ zum Ausdruck bringen, was das habituale Verständnis des Theologiebegriffs besagt: daß die Theologie ihr Sein nicht im formulierten Glaubenssatz hat, sondern im erkennenden Geist des einzelnen Menschen;
Griefenow-Mewis 1994 Oromo 151
Möglicherweise spielen jedoch auch habituale Vorstellungen eine Rolle, d. h. daß eine gewohnheitsmäßig oder regelmäßig vollzogene Handlung mit diesen Formen dargestellt wird.
zu habitualisieren (10)
Oswald 1864 Dogmat. Lehre II 82
so macht Gottes Huld und Gnädigkeit diese aktuelle Liebe zu einer habituellen; . . an dem also entzündeten Liebesakte hat Gott sein Wohlgefallen, und dies göttliche Wohlwollen . . habitualisirt die errungene Aktualität;
1898 Jahrb. f. spekulat. Theologie XII 78
Denn niemand wird vernünftigerweise leugnen können, dass, wenn schon die kurzen Gefängnisstrafen demoralisieren, dies die längeren in noch höherem Grade thuen, indem sie die in der ersten Zeit der Einschliessung vollzogene Entsittlichung durch die lange Fortdauer der demoralisierenden Einflüsse und häufigere Wiederholung der Depravationsakte soweit möglich noch vertiefen und habitualisieren;
Kiehn 1932 Bildung 117
Die in ihnen sich unmittelbar auswirkenden emotionalen Regungen . . der entelechischen Monade spiegeln deren Wesen. Ihre habitualisierte Gesamtverfassung bezeichnet Goethe als ‘Gesinnung’;
Gehlen 1957 Zeitalter 105
Es sind nämlich auch die zur Arbeit gehörenden Bewusstseinsfunktionen habitualisiert, einschließlich der Aufmerksamkeit, die unter diesen Bedingungen selbst habituell wird und ihre Eigenschaft, rasch zu ermüden, in hohem Grade verliert;
Linde 1972 Sachdominanz in Sozialstrukturen 29
die spezifischen Möglichkeiten, Bedürfnisse zu befriedigen und zu entwickeln, also Lebenszuschnitt und Lebensführung . . in einer Weise zu habitualisieren, die wir z. B. als großstädtisch, städtisch oder ländlich . . zu bezeichnen pflegen;
Zeit 14. 3. 1986
Das habitualisierte G’schichtenerzählen kommt gegen die Absicht, Geschichte zu erzählen, kaum durch;
taz 7. 11. 1991
Wo Eltern ebenfalls die Medien intensiv und unreflektiert zu Unterhaltungszwecken nutzen, übernehmen Kinder langfristig das familiär habitualisierte Fernsehverhalten;
Debatin 1995 Rationalität d. Metapher 272
In dem Maße, in dem der metaphorische Gebrauch eines Schemas sich habitualisiert, erstarrt die Metapher immer mehr zu einer neuen usuell-wörtlichen Bedeutung . . Aber auch diese Verfestigung kann sich wieder auflösen, eine habitualisierte Bedeutung kann in Vergessenheit geraten;
Foscht 2002 Kundenloyalität 112
Im Vergleich mit limitierten Kaufentscheidungen stellen sich habitualisierte Entscheidungen als stärker vereinfacht dar . . Habitualisiertes Verhalten kann auf Persönlichkeitsmerkmale zurückgeführt werden . . entsteht grundsätzlich durch Lernprozesse;
Berl. Ztg. 11. 12. 2003
Zwar heißt es von deutschen Orchestern, dass ihr Spiel stets etwas schwer sei, und das kommt ganz wesentlich aus der Tradition des Brahms-Spiels, hat sich aber in der Orchesterpraxis wohl doch so habitualisiert, dass mit diesem schweren Spiel gar nichts Spezifisches mehr gesagt ist.
zu Habitualisierung (6)
Seeberg 1911 Ethik 60
Die Habitualisierung des sittlichen Lebens (Überschr.);
Borngässer 1938 Totalitätsanspruch 47
Dies muß er ja auch deshalb tun, weil die Habitualisierung sittlichen Lebens nur bei echtem, seiner Art nach in einer früheren These gezeichneten Miteinander möglich ist;
Gehlen 1957 Seele 105
Diese Kritikfestigkeit ist eine generelle Eigenschaft aller Habitualisierungen, und sie erscheint auf der untersten Stufe im Bereiche der motorischen Gewohnheiten;
taz 26. 5. 1990
Diese kollektive Erinnerung ist von kumulativem Charakter, wird also durch Wiederholung immer weiter ausgeprägt, so daß wir sagen können, die Natur oder Eigenart der Dinge sei Ergebnis eines Habitualisierungsprozesses, also Gewohnheit;
Berl. Ztg. 3. 12. 1997
Der natürliche Weg der Tradition führt nicht zur Schrift, sondern zur Gewohnheit, zur Habitualisierung und Unbewußtmachung;
taz 4. 12. 2002
Weder die von einigen Psychologen vertretene Habitualisierungsthese (Computerspiele gewöhnen Kinder an Gewalt) noch die Katharsisthese (Computerspiele erlauben es, Aggressionen auf friedliche Weise abzureagieren) wurden bisher stichhaltig durch Untersuchungen belegt.
zu Habitualität (11)
1796 Medicin.-chirurg. Ztg. IV 316
warum aber auch dann, wenn dieser veränderte Zustand dieser Nerven, ihre krankhafte Habitualität, noch nicht völlig und dauerhaft beseitiget ist, ein Purgirmittel, vermittelst seines schwächenden Reitzes das Fieber leicht wieder erregen könne;
Lavater vor 1801 Physiognomik IV (Ausg. 1829) 158
Sieh auf die Stirn mehr als auf alles Andere, wenn du das wissen willst, was der Mensch von Natur ist oder seiner Natur nach werden kann, – und auf seinen ruhenden geschlossenen Mund. Der offene Mund zeigt den gegenwärtigen Zustand der Habitualität;
Hufeland 1803 Bibl. d. pract. Heilkunde IX 11
An sich sind die Congestionen nicht gefährlich. Doch schadet ihre Dauer, Heftigkeit und Habitualität durch Ausdehnung der Gefäße, Verstimmung der Reizbarkeit derselben, Ausschwitzung, Blutung, Entzündung . . der Function der Organe;
1844 Allg. Zschr. f. Psychiatrie I 1,561
Der tägliche Augenschein . ., dass nämlich psychische Krankheiten . . selbständiger als alle andere somatische . . Krankheitszustände seyn können und so ihre Habitualität in höherem selbständigerem Maaß bewähren . . Es muss als Thatsache angesehen werden, dass sich die Manie vom Delirium nur durch ihre Habitualität, Dauer, Bestand ihrer Form wesentlich unterscheidet;
Romberg 1857 Lehrb. d. Nervenkrankheiten 346
Ungünstig für die Prognose ist die Habitualität, welche vorzugsweise ein Attribut der [Wehen-]Krämpfe ist, weil sich die Leitungsfähigkeit der motorischen Nervenfasern mit der Häufigkeit ihrer Erregung ausbildet;
Rothe 1870 Theolog. Ethik IV 252
Als untugendhafte sittliche Gesinnung und untugendhafte sittliche Fertigkeit ist die Untugend Habitualität der sittlichen Abnormität in dem Individuum;
Wellhausen 1906 Christl. Religion 635
[die] griechischen Kardinaltugenden (Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung, Gerechtigkeit) . . sind erworbene Habitualitäten und dienen zur Erfüllung des natürlichen Vernunftgesetzes;
Landgrebe 1928 Diltheys Theorie 254
Den Inbegriff der Habitualitäten, die sich im Laufe der Entwicklung herausbilden, bezeichnet Dilthey als erworbenen Zusammenhang;
1956 Festschr. Drexel 203
Es ist nicht eigentlich eine Welt, die darin erschlossen wird, sondern die Habitualität einer Einstellung, was sich darin ausdrückt;
Marx 1984 Reflexionstopologie 113
Keine Reflexion ist fähig, ihren eigenen konkreten Ursprung, das konkrete Subjekt mit seinen gewordenen Habitualitäten zu verlassen;
taz 10. 12. 1999
Diese Mischung aus Natürlichkeit und Verfall ist das Grundmuster bundesdeutscher Dekorations- und Habitualitätswünsche.
zu habituieren (12)
Fuchsberger 1534 Dialektik 20a
Dann etlich seind ainer habituirten gschwindigkait/ die andern einer affectuirten naigligkait/ vnd die dritten synlicher aygenschafft;
Eisenhuet 1700 Ehre IV 227
jene Gottlose, verstockte, in der Bossheit gantz habituierte Sünder;
1742 Br. (1911 Mitt. Museum f. Hamburg. Gesch. II 33)
das Warten, das Antichambriren, das lange Stehen, die so nöthige Mässigkeit, dies alles, wenn man sich in Affären recht habituiren will, erfordert einen Körper, der die Seele secundiren muß;
Schlettwein 1780 Archiv II 149
eine unter ihren [Gemeinde] Bürgern ausgebreitete habituirte Ehrlichkeit;
1844 Beschr. OA. Heidenheim 66
Habituierte Holzfrevler;
Kaltschmidt 1863 Fremdwb. 332
habituiren . . gewöhnen;
1931 Freiburger Diözesan-Archiv LVIII 92
Hatte Brandmeyer von der „vermummten Seele“ Wiehrls gesprochen, so spricht Alth von Wiehrls habituiert unordentlichen, hämischen und unredlichem Geistescharakter;
Genius 1933 Fremdwb. 383
habiturieren [!] gewöhnen;
Kasten 1970 Taufe 116
Aktpotenz ist also sowohl Voraussetzung im habituierten Subjekt (corpus; anima; potentiae animae) als auch Begriffsmoment des Gehabens selbst;
Frankf. Rundsch. 25. 1. 1997
Nach dem Vorbild der Primatenforscherin Jane Goodall, die . . seit den sechziger Jahren Schimpansengruppen an die Anwesenheit von Menschen gewöhnt, bemüht sich der Würzburger Biologe Gerhard Radl, Schimpansen zu „habituieren“;
taz 17. 10. 2001
Nach der BSE-Krise haben die Menschen nach kurzer Zeit wieder Rinderkoteletts gegessen. Der Fachausdruck hierfür lautet habituieren. Menschen gewöhnen sich schnell an bedrohliche Situationen;
FAZ 20. 1. 2003
Im Taï-Park wird seit fast 20 Jahren das Verhalten von Schimpansen erforscht. Dafür waren die Primaten in jahrelanger Arbeit habituiert, also an menschliche Präsenz gewöhnt worden.