Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

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starr, adj.

starr, adj.
rigidus, horridus, stupens, attonitus. erst nhd. in dieser form erscheinend; mhd. dafür nur stärr, sterre. vgl.: diu slang ist unpiegleich, wan si ist sô stärr, daʒ si sich niht gepiegen mag. Megenberg 267, 15; eine form, die sich in oberdeutschen dialecten bis heute erhalten hat; vgl. bair. sterr neben starr Schm.² 2, 775; tirol. stär Schöpf 700, und aus der sich nhd. stier (s. u.) entwickelte. wahrscheinlich hat sich aber in starblind (sp. 264), ahd. staraplint, starablint, mhd. stareblint, unser wort als erstes glied der zusammensetzung erhalten und beweist auch ohne andere zeugnisse sein höheres alter. über die beziehung zu stark, sowie seine sonstige etymologische verwandtschaft siehe starren, verb.
I.
starr, erstarrt, steif, emporstarrend.
1)
in eigentlicher bedeutung:
a)
vom menschlichen oder thierischen körper und seinen theilen:
α)
so sind alle die wünsche und hoffnungen meines lebens erfüllt! so kalt, so starr an der ehernen pforte des todes anzuklopfen. Göthe 16, 189 (Werthers leiden); bildlich von einer zerstörten stadt:
(Ilion,) ein riesenleichnam, starr nach langer qual.
41, 162 (Faust II, 2).
starre glieder, membra rigentia. Steinbach 2, 685; die glieder wurden starr, membra rigescebant. 686; starre füsze, pedes torpore hebetati. 685; die im letzten krampf (des todes) starr und steif gewordenen arme klemmten sich zwischen den leisten der seitenwände des schwarzen wagens. Raabe schüdderump 1, 66;
die faust war starr und starr das blut,
die lippe war stolz gebäumt.
Strachwitz ged. 93 Weinhold;
jetzt liegt er (Rolves Karsten 1437) still im sarg auf niederm schragen —
auf seiner brust das schwert in starrer faust.
Eelbo Dithmarschen 36.
als wirkung der kälte: starr von kälte, gelato, assiderato di freddo. Kramer dict. 2 (1702), 911ᵇ; der leib wird durch die kälte starr, vis frigoris corpus adstringit. Steinbach 2, 686;
ihm (dem jäger) war es eine kleinigkeit, stockstill, auf starren zehn,
wenn gleich von eis ihm bart und locken klangen, ...
drey nächte lang im forst zu stehn,
um mir ein kleines reh zu fangen.
Gökingk 2, 116 (an den könig von Siam);
drüben hinterm dorfe
steht ein leiermann,
und mit starren fingern
dreht er, was er kann.
W. Müller ged. 1 (1868), 58.
von dem (steifen) pferdefusz des teufels:
zu schwerer busze
mit starrem fusze
kommt er (Mephistopheles) geholpert,
einher gestolpert;
er schleppt das bein,
wie wir ihn fliehen,
uns hinterdrein.
Göthe 41, 143 (Faust II).
von einer schwangeren:
auf grüner matte sasz sein weib;
das kind ins gras gelegt,
sasz sie und schaut' mit starrem leib
hinüber, unbewegt.
Keller 10, 136 (Aroleid).
starres mannsglied, cazzo, ritto, rigido, duro. Kramer dict. 2 (1702), 911ᵇ. als ausdruck der unbeweglichkeit, so von einem salutierenden soldaten:
der recke liesz erklirren den starren riesenleib,
der schlanke, der blanke, der schwere kürassier.
Keller 10, 48 (kürassier);
vgl.:
starr im sattel wie ein bild von stein
sasz der fürst.
Eelbo Dithmarschen 14.
β)
von struppigem, ungelocktem haar: sie strich dem kleinen über das starre, helle haar und sagte, mir ist er hübsch genug. Frenssen Jörn Uhl 3. vgl.: das lange ... haar hing wild und starr um sein gelblich bleiches angesicht. Molkte 6, 50. doch: (an einem pferdekopf von erz) der prächtige stirnknochen, die schnaubende nase, die aufmerkenden ohren, die starre mähne! Göthe 26, 229, jubiläumsausg., wo die unter 1, e erwähnte gebrauchsweise wol wirksam gewesen ist.
γ)
starres, geronnenes blut: das gefühl des lebens schien mir entflohen — ich sank in der dunkelheit hin — mein angesicht voll starren bluts, meine hände, mein gewand voll starren bluts. Klinger 4, 33 (Raphael de Aquillas 1, 3); s. auch den beleg bei Strachwitz oben 1, a, α. vgl. als ähnlich:
und der jüngling, der dies kind geworden,
schlägt, von armuth hart bedrängt und rohheit,
einst ein auge, das vor starren thränen
deine sterne längst nicht mehr gesehen,
auf zu dir.
Hebbel 6, 288 (dem schmerz sein recht 1) Werner.
δ)
starre nerven, nervi obstupefacti. Steinbach 2, 685.
b)
von öder unwirtlicher landschaft, eine gebrauchsweise, die viel ursprüngliches bergen mag und nicht auf bloszer übertragung des gebrauches unter a) zu beruhen braucht:
bis an die letzte grenze selbst
belebter schöpfung, wo der starre boden
aufhört zu geben.
Schiller 14, 319 (Wilhelm Tell 2, 2).
(im bilde:)
ihr (denker) jätet dorn und distel aus
und pflügt den starren acker um!
Keller 10, 41 (denker u. dichter).
c)
starr, von eis starrend, eisig, kalt: denn es war sehr kalt, der wind blies stark aus norden, die erde war mit schnee bedeckt, die brunnen von eiszacken starr. Wieland Lucian 3, 16;
nun reifen fremde saaten für ihn, wenn früherwacht
der winter auf dem gebirge sich
ausstrecket, und von starrer schulter
glänzende flocken in thäler schüttelt.
Stolberg 2, 105.
auch in dem folgenden bilde versteckt:
wie der sonne strahl im lenze gleich der goldnen heldenlanze
eines flusses panzer sprenget und die wogen wärmt mit glanze:
also sprengt dein augenstrahl meines herzens starre rinde.
W. Müller ged. (1868) 1, 155.
starrer wind u. s. w.:
vor seinem (des sturmes) starren wüthen
streckt der schiffer klug die segel nieder,
mit dem angsterfüllten balle spielen
wind und wellen.
Göthe 2, 76 (seefahrt);
gurgelnd um die knechte quillt die see,
saust der starre wind und stiebt der schnee.
Eelbo Dithmarschen 81.
sogar:
beichte will er in der kalten
einsam starren mondnacht halten.
J. Mosen 1 (1863), 62.
d)
allgemeiner 'fest' im gegensatz zu 'flüssig' u. ä., besonders in philosophischer sprache: ein fester — besser ein starrer körper (corpus rigidum) ist der, dessen theile nicht durch jede kraft an einander verschoben werden können, die folglich mit einem gewissen von kraft dem verschieben widerstehen. Kant 8, 518; vgl.: starre körper nennt Kant die nicht flüssigen, die man sonst feste oder trockne nennt. Hugo naturrecht (1819) 55; ähnlich subst.: die skulptur und die musik stehen sich, als entgegengesetzte härten, gegenüber. die malerei macht schon den übergang. die sculptur ist das gebildete starre, die musik das gebildete flüssige. Novalis 3, 4 Wille. insofern Epikuros ... das urwesen als starre materie faszt und diese nur durch mechanische verschiedenheiten in die mannichfaltigkeit der dinge überführt. Mommsen röm. gesch. 2, 413. ähnlich wol die folgende subst. verwendung:
und umzuschaffen das geschaffne,
damit sichs nicht zum starren waffne,
wirkt ewiges, lebendiges thun.
Göthe 3, 89 (eins und alles);
suche nicht verborgne weihe!
unterm schleier lasz das starre!
willst du leben, guter narre,
sieh nur hinter dich in's freie.
47, 150 (Genius, die büste der Natur enthüllend).
e)
emporstarrend:
α)
von felsen: ich aber weisz ein viel beklagenswerteres weib, das an den starren felsen geschmiedet und von den krallen eines feuerspeienden drachen zerfleischt, den vom himmel gesandten retter mit sehnsucht erwartet. C. F. Meyer Jenatsch 121; die starrste felswelt und der wildeste kampf zwischen wasser und fels auf der strecke von Goschenen bis zum Urner-Loch. Vischer auch einer 1, 70;
halte, halte, ach ich gleite!
doch der starre felsenschlund
blühet mir zu deiner seite
wie ein duft'ger wiesengrund!
Brentano 3, 366;
vgl.: da kam ein furchtbares gewitter; weiszgraue wolken stiegen starr wie felsen im osten auf und bald hörte man zwischen den donnerschlägen das prasseln des hagels. W. H. Riehl geschichten 4, 38. auch:
von auszen schaut sie (die burg)! himmelan sie strebt empor,
so starr, so wohl in fugen, spiegelglatt wie stahl.
Göthe 41, 203 (Faust II, 3).
β)
im gegentheil, es ist (der weg der tugend) ein schmaler, rauher steg,
voll starrer hecken ohne rosen.
Wieland 10, 257 (Kombabus 36);
vgl.:
(ihr) sprengt den entlaubten eichenschaft,
der starr und dürr am wege steht.
Keller 10, 41 (denker u. dichter).
starrer lorbeer:
hier aber ward ein groszes beispiel durchgekämpft:
wie sich gewalt gewaltigerm entgegenstellt; ...
der starre lorbeer sich ums haupt des herrschers biegt.
Göthe 41, 113 (Faust II, 2).
zugleich unter einflusz von 1, a, α als ausdruck des in der Daphne erstarrenden lebens:
da rief sie (Daphne): rettet mich, ihr götter!
die thörin die!
Zeus winkte, starre lorbeerblätter
umflogen sie.
Hölty 4 Halm.
f)
starre goldstickerei, starre seide:
der reiche graf, des fürsten erster diener, ...
trägt schon ein kleid von starrem golde schwer.
Gleim 1, 281;
denn dir die grillen zu verjagen
bin ich, als edler junker, hier,
in rothem, goldverbrämtem kleide,
das mäntelchen von starrer seide.
Göthe 12, 73 (Faust I).
2)
hart, unbeugsam, eigenwillig, störrig, widerspenstig; vgl. oben.
a)
der eigentliche herd dieser bedeutungsentwicklung liegt in wendungen wie: ein starrer kopf, testa incordata cioè ostinata, inflessibile, salda. Kramer dict. 2 (1702), 911ᵇ; ein starrer nacken, cervix rigida. Steinbach 2, 685;
heiszer wird mir jährlich das herz, und starrer der nacken
gegen jegliches joch.
Stolberg 1, 364.
b)
starrer sinn:
dein starrer sinn will sich nicht beugen;
bedarf es weit'res, dich zu überzeugen?
Göthe 41, 149 (Faust II, 2);
ich will ihn brechen diesen starren sinn,
den geist der freiheit will ich beugen.
Schiller 14, 399 (Wilh. Tell 4, 3).
dagegen in dem sinne 'leblos': der starre sinn der alten universitäten. Ranke 1, 274.
c)
starres herz:
mutter, du böse mutter, wie starr dein herz und gefühllos!
Voss Odyssee 23, 97;
der glimmende funken in Dithmarscherland —
wie Martin Luther verkündet —
ist aufgelodert zu mächtigem brand,
hat die starren herzen entzündet.
Eelbo Dithmarschen 103.
doch starre seele folgt mehr der bedeutung unter 2:
starr ist vor schrecken meine ganze seele!
Kleist 1, 288 E. Schmidt (Amphitryon 3, 5).
3)
entsprechend auch von personen:
a)
hervorgehend aus der verwendung unter 2 'verschlossen, hartnäckig auf eigener meinung bestehend, sich fremden einflüssen entziehend, zugleich mit härte und schärfe'.
α)
denn wir sollen ... nicht vergessen der wolthaten gottes, sonst werden wir undanckbar, hart und starr, das wir weder verheiszungen noch drewung achten. Luther 28, 660, 15 Weim. ausg.; gewohnheit, jugendliche eindrücke, achtung für vorfahren, abneigung gegen den nachbar und hunderterlei dinge sind es, die den besitzer starr und gegen jede veränderung widerwillig machen. Göthe 23, 156 (W. Meisters wanderj. 3); alle bekehrungsversuche, wenn sie nicht gelingen, machen denjenigen, den man zum proselyten ausersah, starr und verstockt. 26, 261 (dichtung u. wahrheit 14); am wirt hatten sie nicht viel zu betrachten, der Manz war ungelenk, starr, unfreundlich und melancholisch und wuszte sich gar nicht zu benehmen. Keller 4, 100 (Romeo u. Julia); aber der mann, welcher vordem so weich gewesen, war nun in demselben masze hart und starr. er beantwortete die briefe nicht. W. H. Riehl geschichten 6, 95; in der einsamkeit bin ich wunderlich und starr geworden. Frenssen Jörn Uhl 425.
β)
bei der gewählten sache bis zuletzt ausharrend, nicht vom platze wankend: Götz (allein). o kaiser! kaiser! räuber beschützen deine kinder. (man hört scharf schieszen.) die wilden kerls, starr und treu! Göthe 8, 150 (Götz von Berlichingen 5). doch nur in dem sinne von 'unbeweglich, sich thatenlos nicht von der stelle rührend':
was stehn so starr die königlichen heere?
ruft sturm!
Shakespeare, könig Johann 2, 2.
γ)
und wer mich nach meinen werken für liebenswürdig hielt, fand sich sehr getäuscht, wenn er an einen starren ablehnenden menschen anstiesz. Göthe 26, 269 (dichtung und wahrheit 14); mit dem berühmten Schnorr war ich auch mehrere mal, einem sehr starren, frommen protestanten, der in Rom der neupreuszischen liturgiekapelle vorstand, und ihr eigentlicher halt war. Brentano 9, 219; die starrsten aristokraten sind froh, wenn sie gelegenheit finden zur herablassung, denn dadurch eben fühlen sie, wie hoch sie gestellt sind. Heine 3, 236 (reisebilder 3); er war ein strenger, starrer mönch, fanatisch und herrschsüchtig und um siebenhundert jahre zu spät auf die welt gekommen. W. H. Riehl geschichten 4, 301; die haltung eines warmfühlenden aber doch etwas starren belgischen patrioten. hist. polit. blätter (1899) 123, 4, 242.
b)
starr, durch irgend eine gefühlserregung überrascht, unbeweglich, wie versteinert u. s. w.
α)
mit angabe des grundes: Jeronimo Rugera war starr vor entsetzen. Kleist 3, 297 E. Schmidt (erdbeben in Chili); doch da Elvire, starr vor entsetzen, wie ihre zunge war, nicht sprechen konnte. 364 (findling); herr Milett war starr vor schrecken. W. H. Riehl geschichten 7, 253;
Bernardo. siehts nicht dem könig gleich? schau's an, Horatio.
Horatio. ganz gleich; es macht mich starr vor furcht und staunen.
Shakespeare, Hamlet 1, 1.
anders: da liesz er (der scholarch) das buch starr vor verwunderung auf den tisch fallen. W. H. Riehl geschichten 1, 440; ich prallte zurück, starr vor staunen 4, 305; anders: Gerbot, starr über solche unersättlichkeit, hatte ein strafendes wort auf der zunge. 4, 45.
β)
ohne solche angabe: Ferdinand (starr und einer bildsäule gleich, in langer pause hingewurzelt, fällt endlich wie von einem donnerschlag nieder). Schiller 3, 503 (kab. u. liebe 5, 7 scen. bem.); die marquise stand starr über ihm, und sagte: 'ich werde wahnsinnig werden, meine mutter'. Kleist 3, 291 E. Schmidt (marquise von O.).
c)
zur begrifflichen steigerung in allitterierender verbindung mit einem andern adj.:
α)
entsprechend der bedeutung unter a: wenn ihr andern ernsthaften herren nur nicht so starr und steif wäret, nicht gleich einen jeden, der sein äuszeres bedenkt, für eitel erklären und euch dadurch selbst die freude verkümmern möchtet, in gefälliger gesellschaft zu seyn und selbst zu gefallen. Göthe 22, 41 (W. Meisters wanderjahre 2). vgl.:
bewundern sie die glatten buchenwände,
der bäume langes zeremoniell,
die starr und steif, und zierlich wie sein (des königs) hof,
in trauriger parade um mich gähnen.
Schiller 5, 1, 33 (dom Karlos 2, 4).
β)
entsprechend der bedeutung unter b: der sasz stumm da, ... von der neuen sorge starr und still geworden. Frenssen Jörn Uhl 281. vgl.: starr und stumm hatte der jude die erzählung des augustinerpaters angehört. Hausrath pater Maternus 230;
dann ward ich starr und steif (vor entsetzen) und konnte kaum
ein glied noch rühren.
Hebbel 2, 120 Werner (trauerspiel in Sicilien 7).
4)
von abstrakten dingen und verhältnissen.
a)
sich fortentwickelnd aus 3, b, so von menschlicher gefühlserregung, wo aber ein einflusz von starr II nicht zu verkennen ist: dem starren schweigen im hofe folgte wilde bewegung, racheruf und geschrei. Freytag 8, 103 (ahnen 1, 1, 6); dann hörte er mit starren staunen den evolutionen des schrecklichen gewitters zu und schickte dem abgehenden einen langen, verwirrten blick nach. Vischer auch einer 1, 37; als ihr eines tages ein zahn ausfiel — er polterte bei tische auf ihren teller nieder und war zu meiner starren verwunderung kein leibhaftiger, sondern ein eingesetzter zahn. Marlitt heideprinzeszchen 34; 'jetzt verstehe ich das lied', sprach er dann mit der leisen stimme des starren schreckens. W. H. Riehl geschichten 2, 258;
aber der alte
senkte den blick tiefsinnig, und sasz in starrer betäubung,
wie wenn er predigen sollte, das herz voll worte des himmels.
Voss 1, 48 (Luise 1);
wie die kühne that gelang,
weisz ich nicht. in starre ohnmacht
war ich zagend hingesunken.
Grillparzer⁴ 3, 17 (ahnfrau 1).
b)
sich ergebend aus 3, a.
α)
die jüdische religion wird immer einen gewissen starren eigensinn, dabei aber auch freien klugsinn und lebendige thätigkeit verbreiten. Göthe 6, 44;
verkümmerte dir nicht
dein einz'ger sohn durch rohes, wildes wesen,
verworrenheit, verschwendung, starren trutz
dein reiches leben, dein erwünschtes alter?
9, 251 (natürliche tochter 1, 1);
'wie können wir unsere wahl denn anders rechtfertigen als durch die standhaftigkeit, mit welcher wir den armen menschen die treue halten?' 'da haben wir den starren wahn!' dachte Salander. Keller 8, 123 (Salander 8).
β)
es ist zwar diesz (die zersplitterung eines groszen unsichtbaren kreises der nation) die alte geschichte, die sich bei erneuerung und belebung starrer stockender zustände gar oft ereignet hat. Göthe 31, 39 (tag- und jahreshefte 1794); trotz der hauptlüge ... ward sie selbst auch immer besser, während sie doch nur so eifrig sich bezwang, um im starren bann der sitte als wirklich reiches und vornehmes mädchen zu bestehen. W. H. Riehl geschichten 4, 57; starre regel, die keine ausnahme zuläszt;
mit starrer gesetzlichkeit stürmst du mich an,
und achtest für nichts die unendliche macht,
die mich, den glücksel'gen, in's elend gebracht.
Göthe 40, 396 (Pandora);
gleich dem fertigen schmetterling,
der aus starrem puppenzwang
flügel entfaltend behendig schlüpft.
41, 231 (Faust II, 3);
weiszt du was sterben ist? vermag
dein junges herz den starren sinn zu fassen?
Fulda talisman¹³ 123.
c)
starre schönheit, wol mit der begriffsfärbung 'frostig, eisig, kalt': er (der junge) war von einer besondern, etwas starren schönheit. Kleist 3, 360 E. Schmidt (findling). vgl.:
frauenschönheit will nichts heiszen,
ist gar zu oft ein starres bild.
Göthe 41, 130 (Faust II, 2).
d)
in einer neuen, seltsamen bildlichkeit: das sind ihre thränen nicht — nicht jener warme wollüstige thau, der in die wunde der seele balsamisch flieszt, und das starre rad der empfindung wieder in gang bringt. Schiller 3, 500 (kab. u. liebe 5, 7).
5)
in adverbieller verwendung.
a)
leblos, unbeweglich, erstarrt u. s. w.: o! wenn da diese herrliche natur so starr vor mir steht, wie ein lackiertes bildchen. Göthe 16, 130 (Werthers leiden); ich war jetzt, da ich und die braut eben nicht so gar weit gen Bindloch hatten, wo ich absteigen wollte, weil ich's für unschicklich hielt, mit der verlobten starr und aufrecht unter das Bayreuther thor zu fahren. J. Paul 4, 29 (Quintus Fixlein); die männer eilten die steintreppe hinab, frau Gisela lauschte starr nach getöse und fall am fusz der treppe. Freytag 8, 146 (ahnen 1, 1, 8);
da (in der zwölften stunde der nacht) ging ein altes weib in einem hohlen wege,
ein andres weib kam in dem weg' heran,
die thoren sahen sich für zwei gespenster an,
und standen starre da, als ob sie säulen wären.
Lichtwer 46 (fabeln 2, 3);
in der clause lag ein felsblock ..,
daran starr und ernst und schweigend
sasz ein mann als ob er schliefe.
Scheffel 5, 116 (trompeter 10).
b)
entprechend 1, c, im bilde:
vor ihrem blick, wie vor der sonne walten,
vor ihrem athem, wie vor frühlingslüften,
zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten,
der selbstsinn tief in winterlichen grüften.
Göthe 3, 27 (elegie).
c)
ungewöhnlich, entsprechend 1, f: ich lag schon im bett unter einer wunderlichen damastdecke, die mit wappen und verschlungenen namenszügen, und verblichenen rosen und jasminranken ganz starr gestickt ist. Bettine 1, 258.
d)
starr auf etwas beharren, entsprechend oben 2: seine rechtschaffenheit zeigte sich immer als dieselbe, ja die bekanntschaft mit der welt mochte ihn veranlaszt haben, strenger, sogar starrer auf seinen wohlmeinenden gesinnungen zu beharren. Göthe 26, 94;
beharre du nur starr auf deiner ersten bitte,
und Juno selbst wird neidisch auf dich schielen.
Schiller 1, 326 (Semele).
II.
starr, starr blickend.
1)
starres auge: sie lag, mit starrem, schon gebrochenen auge, da, und antwortete nicht. Kleist 3, 165 E. Schmidt (Kohlhaas). ungewöhnlich ist die übertragung dieser gebrauchsweise auch auf den zustand des schlafens, doch wol durch die beliebte annahme des schlafes als eines bruders des todes veranlaszt:
nach einem ruthenmanövre,
setzt ein schulmonarch sich nicht
gelaszner an den pult, als er (Jupiter) zur tafel kehret,
und einen becher nach dem andern leeret,
bis Morpheus ihm die starren augen bricht.
Gotter 1, 63 (Jupiter und sein repräsentant).
starres auge, welches mit spannung, verwunderung, entsetzen oder ähnlicher gefühlserregung blickt: einen starr ò mit starren augen ansehen, mirare, guardare, riguardare uno con occhi fisi, fermi. Kramer dict. 2 (1702), 911ᵇ; starre augen, oculi contenti. Steinbach 2, 685; was dazwischen lag, eine zeit der ruhe für jedermann, wurde dem vater eine unendliche qual, wo er hundertfach das bittere der nächsten tage durchmachen sollte mit starrem auge und fieberhaftem pulsschlag. Freytag 7, 249 (verl. handschr. 4, 5);
in blicken redet er liebäugelnd mit Clariszen,
die oft mit starren augen an seiner weste hing,
und oft gestöret wurde, und an zu husten fing.
Dusch verm. werke 167;
sasz ich früh auf einer felsenspitze,
sah mit starren augen in den nebel.
Göthe 2, 188 (Amor als landschaftsmahler).
dagegen mehr in dem sinne von stier: einer mutter war ihr kind von den wichtelmännern aus der wiege geholt, und ein wechselbalg mit dickem kopf und starren augen hineingelegt, der nichts als essen und trinken wollte. brüder Grimm kinder- u. hausmärchen 39, 3;
köstlich ists — der schwindel starrer augen,
seiner (des Apollo) tempel weihrauchduft zu saugen,
stolzer, kühner schwillt die brust —
Schiller 1, 260 (vorwurf).
2)
in einer fortentwicklung von 1, wol über die adverbielle verwendung starr blicken u. ä., starrer blick, spannender, staunender, erschreckter, entsetzter u. s. w. blick: er zog seine hand aus der ihrigen, indem er sie mit einem starren, unwilligen blick ansah. Göthe 16, 158 (Werthers leiden); Miller legt das billet nieder, schaut lange mit einem schmerzlichen starren blick vor sich hinaus. Schiller 3, 476 (scenar. bemerk. zu kab. u. liebe 5, 1); nein, der starre blick (wie der des thierbändigers) sagt dem vieh nur, dasz der mensch wacht, auf seiner hut ist, und blick gegen blick, gleich fix gespannt, lauert es denn, ob er sich einen augenblick vergesse. Vischer auch einer 1, 32;
zu wollustreichen phantasie'n,
zu freuden, welche schöne seelen
an unsichtbaren ketten ziehn, ...
dasz ihre starren blicke glänzen,
ihr busen klopft, die wange glüht.
Gotter 1, 21;
wie schuppen fällts herab vom starren blick,
und eine thräne, von den liebesüszen,
zum ersten mal sie kehrt in's aug zurück.
Göthe 13, 266 (Epimenides erwachen 1, 1);
(graf.) und noch haften
deine starren leichenblicke
mir, gleich dolchen, in der brust.
(Bertha.) meine blicke?
(graf.) deine blicke!
zieh nicht staunend auf die augen!
siehst du so! — doch nein viel starrer!
starr? — die sprache hat kein wort!
Grillparzer⁴ 3, 21 (ahnfrau 1)
(auch von einem marmorbild:)
so steht mit starrem blick, der marmor auf dem grabe.
Klopstock 1, 89 (königin Luise);
(mit finalem beisinn:)
ihm (dem zauberbild) zu begegnen ist nicht gut:
vom starren blick erstarrt des menschen blut.
Göthe 12, 218 (Faust I)
bei dem anhaltenden starren hinsehn auf die nämliche fläche kann es nicht anders kommen, als dasz die augen, auch des schärfsten beobachters, anfangen trübe zu werden. Schiller 5, 1, 1 (vorw. zum dom Karlos);
aber auf den schönen grünen auen
fand ich eine, die ich suchte, nicht,
und das lange, ferne, starre schauen
machte trübe meiner augen licht.
W. Müller ged. 1 (1868), 80.
hierher auch starrer zug: ein bleicher bursche, dessen krankhaft starre züge in dem schwalle des dunkeln verwirrten lockenhaares fast verschwanden. C. F. Meyer Jürg Jenatsch 29; auch: starr und seelenlos waren ihre einst so schönen züge noch immer schön. W. H. Riehl geschichten 6, 98; dem freimann fiel etwas starres in die fette gemütlichkeit seiner züge. Ganghofer mann im salz (gartenlaube 1905, 798ᵃ); ein starrer zug liegt auf ihrem gesicht; ein starres lächeln spielt um ihren mund.
3)
adverb.: nachdem sie (Lucifer und seine haushofmeisterin) ... einander mit fewerblitzendem gesicht mehr als ein stund starr in die augen hinein sahen, als wie die katzen zu nachts zeit. Philander 1, 527; er sah ihn starr an, defixis oculis eum intuebatur. Steinbach 2, 686; um gottes willen, sagte ich, mit einem heftigen ausbruch hin gegen sie fahrend, um gottes willen, hören sie auf! sie hielt und sah mich starr an. Göthe 16, 141 (Werthers leiden); sie (Amalia) sizt stumm — das auge starr auf das bild (Karls) geheftet. Schiller 2, 149 (räuber 4, 4 schausp. scen. bemerk.); die marquise sah, während der feierlichkeit, starr auf das altarbild. Kleist 3, 293 Schmidt (marquise von O.); 'ich glaube, er war es', flüsterte Jenatsch, dem sichtlich bei dieser erinnerung unbehaglich zu muthe ward, und blickte starr vor sich hin in die dämmerung. C. F. Meyer Jenatsch 46;
sieht dein auge nicht trüb' um sich her, nicht starr ohne seele?
so erstarb auch mein blick!
Klopstock 1, 28 (an Ebert);
aber Amalia stand abwärts am gesimse des fensters,
trocknend das aug', und blickt' in die mondumdämmerte gegend,
starr und gedankenlos.
Voss 1, 160 (Luise 3);
wart alter! dich will ich fangen, ins auge will ich dich fassen, so starr, dasz dein getroffenes gewissen durch die larve erblassen soll. Schiller 2, 134 (räuber 4, 2 schausp.); ich will dabey stehen (wenn ihr sterbt), und euch starr ins auge fassen, wenn der arzt eure kalte, nasse hand ergreift, und den verloren schleichenden puls kaum mehr finden kann. Schiller 2, 183 (räuber 5, 1 schausp.).
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 6 (1908), Bd. X,II,I (1919), Sp. 911, Z. 10.

starre, f.

starre, f.
zustand des starrseins: starre, rigidezza, rigore, intirizzamento, durezza. met. ostinatezza, ostinatione, caparbietà. Kramer dict. 2 (1702), 911ᵇ; starre Campe; eine lähmende starre ging über sie hin. Lauff Pittje 437; bei Kathje war die starre gewichen. 463. nach einigen ist das wort von ganz beschränkter gebrauchsweise: starrheit, starrung, dicitur etiam starre, ut die halsstarre, cervix contenta, tetanus. die kopfstarre, caput obstipum. Stieler 2122; Steinbach 2, 686; starre, ein nur in halsstarre übliches wort. Adelung. vgl. auch noch leichenstarre theil 6, sp. 622.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 6 (1908), Bd. X,II,I (1919), Sp. 918, Z. 26.

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Zitationshilfe
„starre“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/starre>.

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