Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG)

WDG, 5. Band, 1976

Seele, die

WDG, 5. Band, 1976
Seele, die; -, -n
1. Gesamtbereich des Empfindens und Erlebens, bes. der Gefühlsregungen: der Künstler erweist sich als ein Kenner der menschlichen S.; Versetzen wir uns also einmal … in die Seele (Psyche) und in die Gedankenwelt eines Kindes Planck Sinn 10; in jmds. S. lesen; Weil die Ablagerungen überwundener Epochen in den Seelen der Menschen noch lange liegenbleiben Brecht Schriften z. Theater 6,257; eine große, edle, feige, kühne, niedrige Seele zu haben, das läßt sich noch behaupten, aber schlechtweg zu sagen, meine Seele, das bringt man nicht über sich Musil Mann 189; eine empfindsame, zarte, kindlich reine S. haben; Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust Goethe Faust I 1112; er ist gesund, krank an Leib und S. /sprichw./ Essen und Trinken hält Leib und S. zusammen; Gemüt, Gefühl: sie hat keine S.; ihrem Gesang, Klavierspiel fehlt die S.; /übertr./ geh. der Künstler verlieh dem Marmor S.; die Art, mit der er in ein paar flüchtigen Tagen die Atmosphäre, die Geschichte … die Seele (Wesen, Eigenart) der Stadt in sich einsaugt St. Zweig Balzac 357
2. /in festen Wendungen/ umg. die beiden sind ein Herz und eine S. (sie verstehen sich immer ausgezeichnet) mit jmdm. ein Herz und eine S. sein; zwei Seelen und ein Gedanke /wird gesagt, wenn zwei Menschen in demselben Augenblick dasselbe sagen, wollen/; umg. nun hat die liebe S. Ruh /wird gesagt, wenn jmd. endlich hat, was er wollte, wenn jmd. endlich befriedigt ist oder wenn jmd. nicht weiter nach etw. zu verlangen braucht, weil es nicht mehr da ist/ nun gut, schenken wir dem Jungen den Roller, dann hat die liebe S. Ruh; als die Bonbontüte leer war, sagte die Mutter: Nun hat die liebe S. Ruh (du brauchst nicht weiter nach Bonbons zu verlangen, sie sind alle) salopp sich /Dat./ die S. aus dem Leibe schreien (sehr schreien) Die Mutter hatte nicht unrecht, wenn sie fürchtete, ich könnte, indem ich mich in ihren Geschäftskreis verwickelte, Schaden nehmen an meiner Seele (moralisch verdorben werden) G. Hauptm. 4,180; etw. fällt jmdm. (schwer) auf die S., liegt jmdm. (schwer), lastet jmdm. auf der S. (etw. bedrückt jmdn.) ; e. Neuigkeit, Geheimnis brennt jmdm. auf der S. (jmd. möchte unbedingt eine Neuigkeit, ein Geheimnis mitteilen) es brennt jmdm. auf der S., etw. zu tun (jmd. will etw. unbedingt, dringend tun) umg. jmdm. etw. auf die S. binden (jmdm. etw. einschärfen, dringend nahelegen) jmdm. auf der S. knien (jmdm. sehr zusetzen) ; aus tiefster, voller S. zutiefst, sehr: jmdm. aus tiefster S. danken, aus voller S. (ganz und gar, vollkommen) zustimmen du sprichst mir aus der S. (du sagst genau das, was auch meine Meinung ist, was ich denke) das ist mir aus der S. gesprochen (entspricht ganz meiner eigenen Meinung) ; in tiefster, in der S. zutiefst, sehr: etw., jmdn. in tiefster S. hassen; in tiefster S. ergriffen sein; das war ihm in der S. verhaßt, zuwider; das hat mich in der S. gefreut; es tut mir in der S. weh, leid, daß …; etw. schneidet jmdm. in die S. (bereitet jmdm. großen Kummer, Schmerz) ; mit ganzer S. ganz und gar: mit ganzer S. dabeisein, bei einer Arbeit sein, etw. tun; mit Leib und S. mit der ganzen Persönlichkeit, ganz und gar, vollkommen: jmdm., einer Sache mit Leib und S. ergeben sein; mit Leib und S. für etw. eintreten; er ist mit Leib und S. Arzt; mit Leib und S. bei der Sache sein; umg. jmdm. fällt ein Stein von der S. (jmd. fühlt sich plötzlich erleichtert, von einer großen Sorge befreit) ; jmdm. ist eine Last von der S. genommen (jmd. ist von einer Last befreit worden und ist dadurch erleichtert) umg. sich /Dat./ etw. von der S. reden von etw., das einen bedrückt, sprechen und sich so erleichtern: er redete sich /Dat./ alles, seinen Kummer, Ärger von der S. ; etw., jmd. tritt jmdm. vor die, seine S. (jmd. erinnert sich wieder genau einer Sache, jmds.) ; etw., jmd. steht jmdm. vor der, seiner S. (jmd. erinnert sich genau einer Sache, jmds.)
3. /in religiöser Vorstellung/ der als unsterblich betrachtete Teil des Menschen: seine S. verlieren, retten, läutern; Sie [Doktor Franklin] hätten in einem Traktat … das Fortleben der Seele nach dem Tode angezweifelt Feuchtw. Füchse 101; Vielleicht glauben nicht alle diese Menschen an die Geschichte vom Teufel, dem man seine Seele verkaufen kann Musil Mann 40; umg. er ist hinter dem Geld her wie der Teufel hinter der (armen) S. (sehr begierig nach Geld) /übertr./ für ein echtes Adelspatent, von dem einfältigen Louis Philippe unterschrieben, hätte er [Balzac] seine Seele verkauft (wäre er zum Verräter an seiner innersten Überzeugung geworden) St. Zweig Balzac 168; süddt. österr. meiner Seel, veralt. bei meiner armen S.! /Ausrufe der Beteuerung, Schwüre/
4. jmd. ist die S. von etw. jmd. ist der geistige Mittelpunkt von etw., der alles lenkt, der sich um alles kümmert: in der Tat war Reinhardt die Seele … des Unternehmens Winterstein Leben 2,137; Der Hofrat also war … die Seele des Ganzen, von bestimmendem Einfluß auf die gesamte Organisation Th. Mann 2,188 (Zauberb.) ; sie war die S. des Hauses; er war die S. des Aufstandes, Widerstandes, der Erhebung, Revolution; etw. ist die S. von etw. etw. ist bestimmend für etw., der Kern von etw.: Weil Kürze denn des Witzes Seele ist … / Fass' ich mich kurz Schlegel-Shakesp. Hamlet II 2
5. Mensch
a) /Verkl.: Seelchen; mit bestimmten Adjektiven/ eine edle S. ein edler Mensch: umg. vertraul. sie ist eine treue, brave, ehrliche, geduldige, dankbare S.; meine Nachbarin, die treue S.; es fand sich eine mitleidige S., die mir half; umg. er ist eine durstige S. (hat immer Durst) Diese unbeschwerten Seelchen fühlten, daß … Andres Hochzeit 99; sie sah in ihr eine verwandte S.; Doch große Seelen dulden still Schiller Carlos I 4
b) umg. keine (lebendige, lebende, menschliche) S. gar niemand: keine S. war weit und breit zu sehen, war in der Nähe, kümmerte sich um ihn; nirgends war eine menschliche S.;
c) /nur im Pl.; mit Zahlenangabe/ veralt. Einwohner: das Dorf zählte etwa 800 Seelen; eine kleine Stadt mit, von 4000 Seelen; veraltend Mitglied einer Kirch-, Pfarrgemeinde: in einer Pfarre von fünftausend Seelen Droste-Hülsh. 1001
6. umg. er, sie ist eine S. von Mensch, von einem Menschen (er, sie ist sehr gutmütig, herzensgut)
7. fachspr. das Innerste von etw.
a) Techn. der innere Strang eines Kabels, einer Drahtlitze, von Tauwerk
b) Mil. zylindrischer Innenraum des Geschützrohres, des Laufs von Handfeuerwaffen
c) Mus. Stimmstock

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Zitationshilfe
„Seele“, in: Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (1964–1977), kuratiert und bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/wdg/Seele>.

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