Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Etymologisches Wörterbuch des Deutschen

Etymologisches Wörterbuch (Wolfgang Pfeifer)

leiden, …

Etymologisches Wörterbuch (Wolfgang Pfeifer)
leiden Vb. ‘von körperlichem oder seelischem Schmerz gequält werden’, mit Akkusativ ‘etw. ausstehen müssen, ertragen, dulden, zulassen’, daher auch (bereits frühnhd.) jmdn., etw. (nicht) leiden können; ahd. līdan ‘ertragen, erdulden’ (Otfrid, 9. Jh., doch zuvor wohl schon gilīdan ‘mit jmdm. dulden’ für spätlat. compatī, 8. Jh. in St. Gallen), mhd. līden ‘ertragen, erdulden’ (vereinzelt ‘dulden’ ohne Akkusativobjekt), mnd. mnl. līden, nl. lijden, afries. lītha, schwed. lida, dän. lide ‘ertragen, dulden’. Das gemeingerm. Verb bedeutet ursprünglich ‘sich fortbewegen, gehen, vergehen’, so got. -leiþan (in Präfixbildungen), anord. līða (auch ‘dahingehen, sterben’; daneben spät ein schwaches Verb anord. līða ‘leiden, dulden’, unter mnd. Einfluß), asächs. līðan, aengl. līþan; Reste des alten Gebrauchs sind gleichfalls ahd. līdan im Sinne von ‘fahren, vergehen’ (8. Jh., meist in präfigierten Formen; hierzu wohl bereits langobard. līd in laib ‘geh ins Erbe!’, 7. Jh.), mhd. mnd. mnl. līden ‘gehen, vorübergehen’, nl. geleden Part. Prät. ‘vergangen, verflossen’, ferner schwed. lida, dän. lide ‘fortschreiten, vergehen’ (von der Zeit); s. auch leiten. Der im Ahd. zuerst nachzuweisende Bedeutungswandel setzt sich offenbar von Süden (alem., rheinfrk.) nach Norden durch, erreicht um 1300 die Küste und findet vom Nd. aus Eingang ins Nl., Fries. und in die nord. Sprachen. Diese semantische Entwicklung, die sich ebenso bei der später bezeugten Präfixbildung erleiden Vb. ‘etw. ertragen müssen, erdulden, durch etw. Schaden nehmen’ vollzieht (ahd. irlīdan ‘durchlaufen, bis zu Ende gehen, erreichen, fertigbringen’, 9. Jh., ‘durchstehen, erdulden’, um 1000, mhd. erlīden ‘bis zu Ende gehen, bestehen, erleben, ertragen’; vgl. got. usleiþan ‘weggehen, vergehen’), beruht vielleicht auf Einfluß der unter Leid (s. d.) dargestellten Wortgruppe, die jedoch etymologisch von leiden zu trennen ist. Da für germ. *līþan sichere Verwandte außerhalb des Germ. fehlen, bleibt sein Ursprung trotz mehrfacher Herleitungsversuche fraglich. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit toch. AB lit- ‘fortgehen’, awest. raēθ- ‘sterben’, außerdem wird auf griech. ló͞itē (λοίτη) ‘Grab’, loité͞uein (λοιτεύειν) ‘begraben’ hingewiesen; dann wäre eine gemeinsame Wurzel ie. *leit(h)- ‘gehen, fortgehen, sterben’ anzunehmen. – Leiden n. ‘anhaltende Krankheit’, auch allgemeiner ‘Qual, Pein’, heute vor allem ‘seelischer Schmerz’, mhd. līden ‘Leiden Trübsal, Plage’; substantivierter Infinitiv des starken Verbs mhd. līden ‘ertragen, dulden’ (s. oben), der sich im Nhd. zunehmend verselbständigt (seit dem 18. Jh. wird dazu ein Plural gebildet), wohl begünstigt durch den biblischen Gebrauch; vgl. das Leiden Christi (häufig als Schwur- und Beteuerungsformel beim Leiden Gottes, Christi). Leidenschaft f. ‘intensive, das gesamte Verhalten bestimmende und vom Verstand nur schwer zu steuernde emotionale Reaktion’, namentlich ‘heftige Zuneigung zu einer Person, ausgeprägter Hang zu bestimmten Tätigkeiten oder Dingen’, Mitte des 17. Jhs. aufkommendes, jedoch erst im 18. Jh. geläufiges Übersetzungswort für frz. passion, auch für frz. passibilité (dieses eigentlich ‘Leidens-, Empfindungsfähigkeit’, vgl. lat. passio ‘Leiden’, spätlat. ‘Empfindsamkeit’, spätlat. passibilitās ‘Leidensfähigkeit’); Ableitung mit dem Kompositionssuffix -schaft (s. d.) vom substantivierten Infinitiv Leiden (wie Wissenschaft, s. d.); dazu leidenschaftlich Adj. ‘von Leidenschaft getrieben, überaus heftig, von starker Zuneigung, großer Begeisterung erfüllt’ (18. Jh.). leidlich Adj. ‘gerade noch zu dulden, erträglich, halbwegs gut’ (15. Jh.), spätmhd. līdelich ‘leidend, für körperliche Leiden empfänglich, geduldig’ (zu mhd. līden ‘ertragen, dulden’).
Zitationshilfe
„leiden“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/etymwb/leiden>.

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