Deutsches Fremdwörterbuch
Gardine
F. (-; -n), im späten 15. Jh. in verschiedenen regionalen (niederrhein.) Varianten aufgekommene, im 16 Jh. zunächst ins Mittelniederdtsch. aufgenommene, erst seit Anfang 17. Jh. im gesamten dtsch. Sprachraum (außer Oberdtsch.) verbreitete Entlehnung aus mittelniederl. gordine, gordijn (< altfrz. co(u)rtine, go(u)rdine, zurückgehend auf spät-/mlat. cortina ‘Tempelvorhang’ < lat. cortina in seiner Bed. ‘Vorhang’ als Lehnübersetzung von griech. αὐλαία ‘Vorhang (vor dem Zelt)’, ursprünglich adj. Weiterbildung von cohors, kontrahiert c(h)ors ‘Einzäunung, Hofraum; Viehhof’ als Lehnübersetzung von griech. αὐλή ‘umhegter Hofraum, Hof’, also eigentlich ‘was (als Abschirmung) zum Hofraum gehört’, vgl. Kohorte, Garten); anfangs in Formen wie gardyn, gardijn, (niederl. beeinflusstem) gordine, gordyn und (frz. beeinflusstem) Kortine, seit dem 17. Jh. in der (durch → Garde bzw. frz. garder ‘schützen, bewahren’ gestützten) heutigen Form und im 18. Jh. vereinzelt in der (eventuell an ital./span. guardia angelehnten) Schreibung Guardine.
Anfangs auf den norddtsch. (niedersächs.) Raum beschränkt, aus dem Frz. übernommenes gleichbed. Courtine allmählich verdrängend und bis heute mit regionalen (süddtsch.) Entsprechungen wie Umhang und bes. Vorhang konkurrierend, in der Bed. ‘vor dem Bett befindlicher, beweglicher Umhang aus Stoff, Bettvorhang’, auch bildlich (s. Beleg 1673), z. B. hinter den Gardinen (liegen), metaphorisch für ‘im Bett (liegen)’, der Säugling lag in seinem halb von einer blauseidenen Gardine umhüllten Bettchen, sie blieb im Bett hinter dicht zugezogenen Gardinen, v. a. in der seit spätem 18. Jh. nachgewiesenen, nach niederl. gordijnpreek (vgl. engl. curtain lecture) geprägten, älteres, bereits Mitte 17. Jh. bezeugtes Gardinenmesse (nach niederl. gordijnmis) verdrängenden Zs. Gardinenpredigt als scherzhaft metaphorischer Bezeichnung für eine (eigentlich hinter dem Bettvorhang, also im Bett gehaltene) nächtliche Straf-/Moralpredigt, mit der die Ehefrau den spät (vom Wirtshaus) heimkommenden Ehemann empfängt, z. B. eine Gardinenpredigt halten/erteilen, anhören/über sich ergehen lassen, der Ehemann ergriff aus Angst vor einer demütigenden Gardinenpredigt die Flucht, seit Mitte 20. Jh. auch allgemeiner für ‘Vorwürfe, Vorhaltungen, Tadel, Rüge’ (s. Belege 1963, 1970, 1989, 2001; vgl. Standpauke, Philippika), bes. in der Politik (s. Belege 1958, 1994); vgl. auch analog gebildete Zss. wie Gardinendialog, -gespräch, -rede und die Personenbezeichnung Gardinenprediger/-in.
Im 18. Jh. vereinzelt (s. Belege 1727, 1735, 1787), im Laufe des 19. Jhs. dann zunehmend in der Bed. ‘vor den Fenstern zum Sicht-, Sonnenschutz oder zur Dekoration angebrachter, (durchsichtiger) Vorhang, Fenstervorhang’ (vgl. Store), in Wendungen wie die Gardinen auf-/zuziehen, eine luftige, lichtdurchlässige, gestärkte, vergilbte Gardine, schwere, dunkle Gardinen halten die Sonne ab, die Gardine bewegte sich leicht, die hohen Fenster waren mit geblümten Gardinen behängt, als Bestimmungswort oft konkurrierend mit Vorhang- in Zss. wie Gardinenband, -bett, -blende, -bordüren, -dessin, -haken, -himmel, -leiste, -ring, -schlitz/-spalt, -schnur/-bommel/ -kordel/-troddel, -stange, -stoff, -schiene, -umhang; gardinenbehangen, -verhängt, -weiß, als Grundwort in Fenster-, Halb-, Kaffeehaus-, Küchen-, Scheiben-, Über-, Wohnzimmergardine, (mit Bezeichnungen für Material und Machart) Baumwoll-, Blümchen-, Damast-, Häkel-, Samt-/Seiden-, Spitzen-, Stoff-, Rüschen-, Tüllgardine, auch ‘Zwischenvorhang (im Theater), Theatervorhang’ (s. Belege um 1800, 1843, 1895, 1930, 1939), z. B. Gardinenkulisse; Ankündigungs-, Zwischenakts-Gardine (vgl. Brechtgardine ‘auf B. Brecht zurückgehender Gazevorhang auf der Theaterbühne, der je nach Beleuchtung durchsichtig oder undurchsichtig wird und als Leinwand für Projektionen dient’); gelegentlich bildlich verwendet (s. Belege 1723, 1810, 1909, 1994), in Wendungen wie hinter der Gardine ‘hinter den Kulissen; heimlich’ (s. o. Gardinenpredigt), sowie scherzhaft (gaunerspr.) Schwedische Gardinen (wohl als Erinnerung an schwedische Grausamkeiten im Dreißigjährigen Krieg) ‘Eisenstangen, Gitterstäbe vor Gefängnisfenstern’, in Wendungen wie er hat viele Jahre seines Lebens hinter schwedischen Gardinen zugebracht, jmdn. hinter schwedische Gardinen schicken und Zss. wie Gardinenfassade, -blick, -frisur, -perücke; Lichter-, Tränen-, Wasser-, Wolkengardine.

Belege

zu Gardine (50)
1477 Teuthonista 58b
gardyn cortina (DWB);
1495 Kölner Gemma F2d
gardyn (WEIGAND);
1511 Kölner Gemma F3a
cortina eyn gardijn, est velum depictum, dependens in ecclesia sive ante lectum mulieris in puerperio (DWB);
1511 Lüb. Schulvok. 113
eyn ummehanck effte gardyn (KATARA);
Luther 1523 Hl. Schrifft Matth. XXVII 51
de gardine des tempels to schörde in twe stucke;
Hoyer 1535 Ub. II 4,36
ein arress gordyn vor dat altar (KATARA);
Gresbeck nach 1535 Ber. 168
voirden den . . man achter dat gardien (KATARA);
ebd.
eine stellinge mit gardinen umbher behangen (KATARA);
1542 Lat.-dtsch. Vokabelb. 125
cortina ein gardyn;
Chyträus 1597 Casa’s Galateus 371
die ringe an den gardynen (DWB);
Hutter 1598 Lex. harmonicum 668
Gardine;
Henisch 1616 Teutsche Sprach 1357
Gardin/ serg/ tecke/ teppich/ . . kompt her von dem Lateinischen cortina;
Martin 1637 Parlement 75
gardinen oder vmbhänge;
Olearius 1660 Rosenthal E1b
eine Gardin oder Vorhang . . . . und will so viel besagen, Gott macht unsere Sünde, so wir in geheim begehen, nicht stracks offenbar, vnd vns für der ehrbaren Welt zu Schande;
Tepel 1673 Lysis 20
die Sonne [lacht] hinter den schwarzen Wolken-Kortinen [hervor];
Ettner 1697 Chymicus 166
ein kostbares Bett mit weißen Atlassen und mit Gold ausgewirckten gardinen behengt;
ders. 1715 Hebamme 673
durch gardinen und Vorhänge;
Wahl 1723 Poesie 62
Mond und Sterne/ Stehn von ferne,/ Und ziehn die Guardinen zu;
Sperander 1727 A la Mode-Sprach 274
Gardinen, heissen die Vorhänge vor den Fenstern, Betten und Thüren;
Zedler 1735 Universallex. X 301
Gardinen, nennet man die Vorhänge vor denen Fenstern, Betten und Thüren;
1741 Begebenheiten 90
ihre 2 Begleiter, so sie zu dem Ende mitgenommen, und in der Kutsche, so mit grünen und undurchsichtigen Gardinen versehen war, verborgen hatte;
Richey 1755 Idiot. Hamburg. 69
Gardinen: Vorhänge;
1767 Brem. Wb. II 489
Gardine oder Gordine;
Wieland 1778 S. W. XII 45
Sie stritten öfters sich selbst hinter den Gardinen [des Bettes] (SANDERS 1871);
Blumauer 1784–94 Virgils Aeneis (Ges. W. I 122)
Die alten Urseln, die nicht mehr/ Recht hinter den Gardinen/ Zu brauchen waren, machte er/ Zu Ursulinerinnen;
ebd. I 159
So wie wenn sich ein Mädchen schämt/ Bei offenen Gardinen;
Schiller 1787 Don Carlos (S. W. II 99)
Er löscht die Lichter aus und öffnet eine Fenstergardine (DiBi 125);
Christ um 1800 Schauspielerleben 71
daß nach keinem Akte die vordere Gardine durfte niedergelassen werden, weil es nach der Etikette gegen den Respekt vor dem regierenden Herrn war, ihm den Vorhang sozusagen vor der Nase fallen zu lassen;
Fr. Wilhelm III. 1810 (1926 Leben u. Sterben d. Königin Luise 13)
hinter der Gardine wirken;
Immermann 1843 Mem. III 175
Plötzlich ertönt ein Zeichen hinter dem Vorhange . . die Gardine hebt sich, das Stück . . beginnt;
1870 (Lang 1887 Erinn. 154)
Also schnell aus den Gardinen! [schnell aufgestanden!];
Glagau vor 1871 Reut. 41
Zum ersten Mal entbehrte sein Gefängnis der eisernen Gardinen (SANDERS 1871);
Lindenberg 1883 Berlin 45
hinter den verstaubten Gardinen;
Eckstein 1895 Hartwig 107
Grete . . sollte Gardinen aufmachen. Als sie jetzt . . den Korb mit den Vorhängen auf einen Stuhl gesetzt hatte;
Kerr 1895 Br. a. d. Reichshauptstadt 17
Brahm ist der Direktor des literarisch vornehmsten deutschen Theaters geworden . . und das Publikum ruft ihn vor die Gardine und applaudiert;
Th. Mann 1901 Buddenbrooks (W. I 460)
Frau Permaneder trat auf den Zehenspitzen an das Bettchen, lüftete vorsichtig die Gardinen und lugte gebückt in das Gesicht ihres schlafenden Neffen;
ders. 1909 Hoheit (W. II 243)
Klaus Heinrich sah auf zu der kleinen Gestalt, die in schillerndem Kleide, behangen von den schwarzen Gardinen ihres Haares, neben ihm stand;
Grabein 1913 Wildwasser 71
Tut dir wohl leid, dass das Herrchen da drunten im Kittchen sitzt hinter den schwedischen Gardinen?;
Ponten 1926 Siebenquellen 64
oben wurde eine Gardine vorgezogen, und bald war es dunkel;
Th. Mann 1930 Erz. (W. VIII 673)
Ein Gongschlag ertönte . . und die Gardine ging auseinander. Sie enthüllte ein Podium;
ders. 1939 Lotte (W. II 754)
als, nach dem letzten Fallen der Gardine, unter Applaus und Aufbruch, der Bediente . . wieder ehrerbietig bei ihr erschien;
Neues Deutschl. 10. 3. 1954
Helle Gardinen hängen vor den Fenstern;
Kaschnitz 1956 Haus 55
von den halbgeöffneten Fenstern wehten lange weiße Gardinen weit in den schmalen Raum hinein;
Offenburger Tagebl. 16. 11. 1961
der das Urteil sofort annahm und hinter „schwedische Gardinen“ zurückmarschierte;
Zeit 5. 7. 1985
Umzugs- und Renovierungskosten, neue Gardinen;
Spiegel 3. 1. 1994
Weil sich in den „Mauern des Todes“, die wie gigantische Gardinen durchs Wasser schweben, Seevögel und Delphine verheddern, beschloß die Uno, die Treibnetzfischerei zu verbieten;
Frankf. Rundsch. 11. 4. 1998
wurde eine kurze Zwischenkundgebung bei sehr magerer Bürgerbeteiligung gehalten, die Anteilnahme blieb auf den Gardinenblick beschränkt;
taz 4. 5. 1999
Nachdem wir uns von der biederbürgerlichen Gardinenfassade . . nicht hatten abschrecken lassen;
Berl. Ztg. 9. 8. 2000
zum Fenster zu schauen, um zu sehen, wie viel Tageslicht durch die alten verrauchten Gardinen sickert, die niemand mehr wäscht;
taz 30. 11. 2001
Bei Linzer Torte oder Kaffee mit Schlagobers geben die zartweißen Gardinen den Blick auf die Bäume des Central Parks frei.
zu Gardinenpredigt (20)
Lenz 1777 Schr. III 119
Hier fand sie es für gut, ihm aus dem Stegereif eine kleine Gardinenpredigt über das Rauchen, sobald es Gewohnheit wird, zu halten;
Lichtenberg 1794 Hogarth I 153
Gardinenpredigt;
1796 Journal d. Moden XI 72
das . . Häuflein . . derjenigen Leser, die . . Geduld genug haben . . jene berühmten Gardinenpredigten anzuhören;
Jean Paul 1796 Siebenkäs (W. II 295)
Lenette . . hielt . . dem Gatten eine kleine Gardinen- d. h. Gartenbretterwandpredigt, daß er den Vormund vorsätzlich immer heimtückischer mache (DiBi 125);
1800 Hamburger Musenalm. 81
Mädchen werd’ ich sehn,/ Artig, jung und schön!/ Der Gardinenpredigt [von der Frau]/ Blieb ich gern entledigt,/ Wenn ich einen Kuss/ Extra geben muss;
Grossmann 1847 Gesellschaft 60
Also doch am Ende eine Gardinenpredigt;
Willkomm 1857 Ammer 537
Ihr Gemahl würde eine sehr anzügliche und demüthigende Gardinenpredigt zu hören bekommen;
Goltz 1869 Weltklugheit I 63
Mit Gardinenpredigt wird der schlimmste Dämon im Ehekrüppel geweckt;
Meyer 1885 Essays I 277
voll Angst vor der Gardinenpredigt seines Weibes;
Zobeltitz 1902 Papierene Macht II 117
Aber keine Gardinenpredigt . . Ein sehr ernstes Wort;
zur Megede 1911 Quitt 17
Meine Alte soll mir nur mit einer Gardinenpredigt kommen!;
Philippi 1916 Hagedorn 247
dass das keine Gardinenpredigt gewesen war, sondern eine Generalabrechnung, bei der er der Schuldner blieb;
Voss. Ztg. 5. 7. 1929
Frau Katharina von Kardoff . . hat . . einen Band „Gardinenpredigten“ herausgegeben. Ein politischer Briefwechsel über die Stellung der Frau . . im Männerstaat;
1932 Allg. Wegweiser Nr. 4
Die umgangene Gardinenpredigt;
Offenburger Tagebl. 8. 4. 1958
Gardinenpredigt an die Ungarn (Überschr.) Ihr müßt härter werden, sagt Chruschtschow zu den Kommunisten in Budapest;
Stuttgarter Ztg. 24. 5. 1963
[der Parksünder zahlt] die berüchtigte Buße von drei Franken . . und hört sich die damit verbundene Gardinenpredigt an;
FAZ 30. 11. 1970
Es wäre wohl munter weitergecatcht worden, hätte nicht Ringrichter Wally Thorn . . in einer Gardinenpredigt . . mit Abbruch und Disqualifikation gedroht;
taz 29. 5. 1989
Am nächsten Tag bringt F. den Vorfall noch einmal zur Sprache. Eine kurze Gardinenpredigt wird das;
Mannh. Morgen 29. 10. 1994
konnte sich Kanzleramtsminister Bohl ruhig mal eine Gardinenpredigt über Arbeitslosigkeit anhören;
St. Galler Tagbl. 14. 8. 2001
Die Jungen nehmen sich diese Gardinenpredigt zu Herzen.