Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

fürsehung, f.

fürsehung, f.,
s. vorsehung. ahd. begegnet weder ein furisëhunga noch ein forasëhunga, eben so wenig mhd. ein vürsëhunge oder ein vorsëhunge; erst im 15. jh. taucht fursehung auf und zwar in der hernach unter 3) angegebenen bedeutung. im 16. jh. scheint nur fürsehung oder, wie Frisius und Maaler schreiben, auch schon vorher Dasypodius 260ᵇ neben fürsehung 423ᵃ hat, fürsähung gebraucht, und selbst noch im 17. jh. haben Henisch, Schönsleder, Stoer blosz fürsehung. doch setzt bereits Hulsius in seinem 1605 herausgegebenen dictionar. 2, 226ᵇ fürsehung wie vorsehung und führen das von Widerhold in Basel verlegte neue dictionarium von 1669, Matthias Kramer in seinem 1678 gedruckten deutsch-ital. wortbuch, Reyher in seinem 1686 erschienenen lexicon sowol fürsehung als auch vorsehung an, jedes an seiner stelle im alphabete; nur Stieler 2026 nimmt allein das letzte auf, während er doch „für- sive vorsehen“ bietet (s. vorhin sp. 805). im 18. jahrh. haben Wilhelmi, Rädlein, Dentzler, Weismann, Kirsch fürsehung wie vorsehung nach der alphabetischen ordnung, die beiden ersten jedoch das letzte wort mit hinweisung auf fürsehung, das ihnen demnach vorzuwiegen scheint. Matthiä folgt in der ersten ausgabe seines lexicons ganz seinem vorbilde Kirsch, setzt dagegen in der dritten ausgabe (1761) 2, 161ᵃ bei fürsehung gleich vorsehung bei und dann s. 435ᵇ wieder, wie in jener ausgabe, dieses für sich, ein zeichen, dasz jenes als schwindend angesehen wurde, was noch stärker hervortritt, wenn in Webers deutschlat. universalwb. (1770) vorsehung, das ebenfalls an seiner stelle im alphabete steht, s. 319ᵃ bei fürsehung in klammern beigefügt ist. Frisch, Hederich und dessen nachtreter Nieremberger nehmen auch bereits fürsehung gar nicht mehr auf, eben so wenig Haas in seinem deutschen u. franz. wb. (Leipz. 1786), ferner Scheller, während Adelung kurzweg auf vorsehung verweist und hier anmerkt, pro in dem lat. providentia habe vermuthlich die irre geführt, welche fürsehung geschrieben und gesprochen wissen wollten, indem doch der begrif des vorhersehens sehr merklich hervorsteche. er, der die geschichte des wortes nicht kannte, hatte hier offenbar nur die unten unter 6) angegebene bedeutung im auge, aber von dieser gieng das wort nicht zunächst aus, sondern findet sich am frühsten in der unter 3) angegebenen, indem es, wie die bei dieser angeführte stelle aus dem vocabular. theut. von 1482 zeigt, das lat. provisio ausdrückt, für das es auch zuerst gebildet scheint. seine berechtigung kann aber fürsehung nicht abgesprochen werden, wenn es auch heute durch das jüngere vorsehung verdrängt ist. ähnlicher ansicht, wie Adelung, ist Campe, der unter vorsehung, auf welches er ebenfalls bei fürsehung kurz verweist, dieses verwirft, nicht allein weil der begrif des vorhersehens und des anordnens im voraus hier besonders hervorsteche, sondern auch weil das sehen und sorgen für uns oder für unser bestes nur ein damit verbundener nebenbegrif sei. aber gerade diese bezeichnung tritt in der entstehung des wortes eben so stark hervor, wie das vorhersehen. dasz übrigens, wie Heynatz antibarb. 1, 436 angibt, fürsehung gleich fürsehen gegen ende des 18. jh. trotz dem verdrängtwerden durch vorsehung noch seine vertheidiger gefunden, zeigt Bauers deutschlat. lex. (1798), wo sp. 1082 fürsehung und sp. 2824 vorsehung verzeichnet ist und zwar das letzte mit dem beisatz in klammern besser fürsehung. es ist auch hier die unter 6) gegebene bedeutung gemeint, bei der noch der spätere Heyse 2, 1733 unter vorsehung bemerkt: oberd. auch fürsehung u. versehung. eine völlig irrige ansicht Heinrich Brauns wird unten erwähnt werden. Nun zu den bedeutungen, welche sich, da fürsehung von fürsehen abgeleitet ist, nach denen dieses verbums in folgender weise ordnen:
1)
die handlung des vorhersehens oder des voraussehens, die voraussicht. für die fürsehung, dasz er nicht komm, soll mans also salben. Paracelsus 1, 693ᵃ.
2)
die aus voraussicht und vorausbedenken hervorgehende vorkehrung, die aus voraussicht hervorgehende anordnung zu einem zwecke. fürsähung, fürsorg, provisio, cautio. Maaler 149ᵈ, nach Frisius (1556) 1085ᵃ. zeigten jm jren rahtschlag, so sie uber sein handel entschlossen, an, welcher, nach gantz undertheniger beschehener dancksagung unnd zu fürsehung und verrichtung seines geschäffts also bald auff dasselbig urlaub von jnen name. Amadis 56, 108. fürsehung thun, in voraussicht vorkehrung treffen, wie auch das einfache fürsehen steht. s. fürsehen I 4). derhalben und auff dasz er dem unraht unnd nachtheil, so sich zutragen unnd entspringen möcht, fürsehung that, stelt er sein volck in ein schlachtordnung. 372, 795; Polybius sagt, das von künftigen dingen, als wann sie schon geschehen weren, beständige fürsehung nicht zu tuhn, nemlich in den jenigen, welche sich von natur anders zutragen können, sondern es müsten teils derselben dem unvorsehenen ausgange gelassen werden. Butschky kanzlei 499. bei Dentzler 1, 740ᵇ prospicere, vorsehen, vorsehung thun, aber 2, 118ᵇ mit dat. der person einem fürsehung thun, prospectum velle alicui. übrigens fällt der ausdruck hier und unter 3) so wie hier und unter 4) nicht selten zusammen.
3)
die von voraussicht und vorausbedenken ausgehende bestrebung, dasz das erforderliche da oder vorhanden sei. fursehung, provisio. voc. theut. 1482 i 7ᵇ. providentia, prospicientia, provisio, cura, fürsehung, versorgung, sorg. Alberus dictionar. T 4ᵇ. copia, fürsehung und fürsorg, mit speysz. Frisius 332ᵃ und danach Maaler 149ᵃ; annona salaria, fürsehung des saltzes. Frisius 99ᵇ und danach Maaler a. a. o., es ist hier der salzvorrath gemeint und der lat. ausdruck aus Livius 29, 37, 2; conditivus cibus, fursehung der speysz die man hindersich legt oder gehalt, fürsorg, vorradt. Frisius 286ᵇ; penus, vorraat, oder fürsähung, unnd das järlich eynkauffen für das hausgesind. 970ᵃ und danach Maaler a. a. o. auch hier erscheint fürsehung thun, natürlich in der engern bedeutung: aus voraussicht das erforderliche beschaffen, wie das verbum fürsehen gesetzt wird. s. fürsehen I 4) u. II 5). der bey einer gemeine ein amt hat, sol jhme angewönen, güttig zu seyn, damit er, wo ein mangel erscheinet, fürsehung tuh. Butschky kanzlei 295.
4)
die in voraussicht gegründete wahrung oder bewahrung, das in voraussicht gegründete behüten. dann überhaupt so viel als obhut, obsorge: die kinder, die noch in gwalt und fürsehung jrer eltern steen. Nürnberger reformation 171ᵇ. auch hier wird der ausdruck fürsehung thun gleich dem verbum fursehen gebraucht. vgl. fürsehen II 7). provideo, ich fürsihe, vermeyde, verware, thuͦn fürsähung. Dasypodius 260ᵇ und danach bei Serranus cc 3ᵃ, der fürsehung schreibt, die infinitive.
5)
aus voraussicht hervorgehende vorsicht, ein sich vorsehen vor bevorstehendem. auch czewissen thuͦn wie eyn münch von sant Antoni orden mit eyner schnellen fürsehung flohe eyn grosses ungelücke und schand, das im von zweien jungen gesellen bereyt und zuͦgericht was. Boccaccio 2, 196 (Steinhöwel decam., ausg. v. Keller, s. 400, 8), im ital. texte steht con subito riparo. Alle diese bedeutungen erlöschen in der ersten hälfte des 18. jh. schriftdeutsch und es bleibt nur die folgende:
6)
das vorhersehen und die damit verbundene bestimmung und leitung des zukünftigen, providentia. von gott gebraucht. diese bedeutung, welche von der unter 2) angegebenen ausgeht, taucht erst im 16. jh. auf, aus welchem wol ältester beleg die folgende stelle aus dem zu Wittemberg 1523 gedruckten sendbrief Luthers über die frageob auch yemant, on glauben verstorben, selig werden muge“ A iiijᵃ: und ob der spruche mer wurden auffbracht, müssen alle der massen verstanden werden, sonst were dye gotliche fursehung und erwelung von ewickeyt nichts, darauff doch s. Paulus harrte dringt. es ist dies aber auch das einzigemal, dasz, nach der sorgfältigen forschung von Ph. Dietz wb. zu Luthers deutschen schriften (Leipzig 1870) 1, 755ᵇ, Luther das wort gebraucht, denn in seiner bibelübersetzung apostelgesch. 2, 23 und 1 Petr. 1, 2, wo fürsehung stehn konnte, setzt er das in gleichem sinne gebrauchte versehung, das auch in der eben angeführten stelle die Jenaer ausgabe der werke 2, 268ᵃ hat. trotzdem aber und dasz Alberus in seinem dictionar. fürsehung in der bedeutung hier nicht anführt, sondern in der vorhin unter 3) angegebenen, scheint es in jener mehr im gebrauch gewesen zu sein, denn bei Dasypodius 423ᵃ lesen wir „die göttlich fürsehung, oder gott, mens mundi, providentia“. später wurde es in diesem sinne geläufiger:
heist das nicht grob gelestert gott
und sein fürsehung gar verspot.
Fischart v. s. Dominici N 2ᵃ.
göttliche fürsehung. Emmelius Hh 8ᶜ. fürsehung gottes, fatum, providentia dei. Henisch 1305, 54; durch fürsehung gottes, fataliter, necessario. 55. aber im 17. jh. macht sich in dér bedeutung daneben auch vorsehung geltend, wie denn das Genfer deutschfranz.wb. für einen reisendenv. 1683 s. 116ᵃ bei fürsehung auf vorsehung verweist, dann s. 408ᵃ bei diesem worte die vorsehung gottes ansetzt, und Stieler 2026 nur gottes vorsehung hat. im 18. jh. schreibt Wilhelmi 2, 103 wieder fürsehung gottes, während Rädlein wol 313ᵃ das blosze fürsehung, jedoch 1016ᵃ unter vorsehung ausdrücklich die vorsehung gottes und die vorsehung gottes nöthiget niemand anführt. Dentzler 2, 115ᵇ bietet dann nur fürsehung gottes und Kirsch 2, 125ᵃ so wie sein nachtreter Matthiä (1761) 2, 161ᵃ führen an die welt wird nicht durch die klugheit der menschen, sondern durch gottes fürsehung regieret. allein fürsehung wird hier schriftdeutsch durch vorsehung bald fast ganz verdrängt und kommt nur noch vereinzelt vor:
sie (Lenore) fuhr mit gottes fürsehung
vermessen fort zu hadern.
Bürger Lenore, im götting. musenalm. 1774 s. 218. ged. 1778 s. 86;
einer von den guten landesvätern, womit die göttliche fürsehung noch dann und wann ein kleines ländgen beglücket. J. Möser patriot. phant. 3, 169. alterthümlich:
fischer. ists möglich? aber Ihr? wie seid Ihr hier?
seid Euren banden und dem sturm entkommen?
Tell. durch gottes gnädge fürsehung —
Schiller Tell 4, 1 (erster druck s. 160),
ohne entsprechende stelle bei Tschudi. aber das wort wird im 18. jh. auch ohne den beisatz gottes, göttliche und dergleichen gesetzt, blosz für sich, und hat dann die bedeutung: die voraussicht, bestimmung und leitung gottes in ansehung der veränderungen im laufe der dinge. es ist dies so viel als gott selbst in dieser voraussicht, bestimmung und leitung. auch in dieser übergetragenen bedeutung erscheint fürsehung nur vereinzelt: die fürsehung hat dich der welt geschenkt und hat dich mir geschenkt, denn ach! was wäre ich ohne dich! E. v. Kleist neue ged. (1758) s. 82, wo man später ohne berechtigung vorsehung besserte, wahrscheinlich weil der dichter allerdings sonst dieses setzt: die vorsehung wird schon die rechte der tugend behaupten. s. 95; wenn wirst du deine rechte schützen, o vorsehung! 124;
die vorsehung,
die über alles wacht, sah seine treu
und seine groszmuth an, und liesz das meer
ihm nicht zum grabe sein.
29.
die fürsehung, d. i. gott selbst, deus, numen, voluntas dei. Bauer deutsch-lat. lex. (1798) 1082, der, wie oben erwähnt, fürsehung für den besseren ausdruck erklärt, aber auch sp. 2824 wider die vorsehung streiten, deo repugnare, dann ob eine vorsehung sey? u. s. w. hat. Eine unterscheidung, wie die von Heinrich Braun in seinem deutsch-orthographischen wb. s. 105ᵇ fürsehung, wenn gott für jemanden fürsieht und 247ᵃ vorsehung, in gott, wodurch er alles vorhinein sieht, ist sprachkünstelei, weder dem ursprunge noch der geschichte des wortes gemäsz und somit verwerflich.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 4 (1871), Bd. IV,I,I (1878), Sp. 808, Z. 64.

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Zitationshilfe
„fursehung“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/f%C3%BCrsehung>.

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