Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

storchschnabel, storchenschnabel, m.

storchschnabel, storchenschnabel, m.,
der schnabel des storchs (charakteristisch durch seine länge). — die beiden formen halten sich das gleichgewicht, doch in neuerer zeit deutliches überwiegen von storchschnabel (besonders gefestigt in der technischen und botanischen namengebung) sturchsnabel bei Trochus. die sonst dem 16. jahrh. besonders geläufige form ist storkenschnabel. im übrigen starchensnabel (neben storckensnabel), cronopodia Diefenbach gloss. 159ᵇ (anf. 16. jahrh.); storckessnabel herba rubea Diefenbach nov. gloss. 201ᵇ (voc. um 1400), cronopodia 121ᵃ (anf. des 15. jahrh.) entsprechend storchsschnabel (das kraut) Prätorius winterflucht (1678) 253.
1)
eigentlich Kramer 2, 616ᵇ; 985ᵃ; als abergläubisches mittel wenn ein schnabel von einer enten (im hosensaum eingenäht) soll so grosze kraft haben (den träger bei den frauen beliebt zu machen), so wird vermuthlich ein storchschnabel noch viel kräftiger seyn Schmidt gestriegelte rockenphilosophia (1706) 2, 264. — im vergleich: der lange Daniel ... klapperte mit den zähnen, als ob er einen storchenschnabel hätte Gotthelf 8, 231; ein kinn hat er gar nicht, die schnauze dagegen ragt vor wie ein storchschnabel Grabbe 4, 54.
2)
bemerkenswert und charakteristisch als 'pars pro toto' (?) storchsnabel, ciconia (!) Diefenbach gloss. 117ᶜ; vielleicht auch:
wenige wenige storkaschnabel,
wenn i will in himel fara,
reisz i mir a bäumle rousz,
und mache mir a pfeiffle drausz,
und pfeiffe alle morga:
hear i alle storka
in der müle zickezack.
o du alter pfeffersack!
kinderreim bei Birlinger schwäb. augsb. wb. 412ᵇ.
ein gebrauch, der in der namengebung für geräthe noch deutlicher durchscheint (vgl. unter 3, b die völlig gleiche verwendung wie kran [kranich] th. 5 sp. 2018).
3)
übertragen.
a)
als spöttische geste (ganz entsprechend storch 11): da du lang ein gelopt hast und guts von im gesagst under sein antlutz, und als bald er den rücken kert, so rümpfest du die nasz, die bewegstu mit geberden, und schlechst im also den muff nach, oder machest im essels oren mit der handt, oder ein storckenschnabel Keisersberg sünden des mundes 43ᵈ.
b)
als geräthname.
α)
der spitze hammer der steinsetzer, mit welchem die weicheren pflastersteine bearbeitet werden: von einem pflasterhamer und störchschnabel desgleichen zu stecheln acht und zehen pfenning (lohn) Tucher baumeisterbuch 100.
β)
storchschnäbel, (im schmiedehandwerk) zangen mit langen spitzigen kneipen Adelung; Krünitz 174, 594. — (in der chirurgie) eine kleine zange, mit welcher fremdkörper aus einer wunde herausgenommen werden: so nim dann das iserin instrument, das do heiszet ein storckenschnabel oder aber ein laucher, und thun den in die wunden Brunschwig chirurgia 31ᵇ; du solt auch haben ain hol eisen instrument, genant ain laucher, schlecht wie ain storckenschnabel, ob ainer ain wunden hat, solchen schnabel in wunden zuͦ stoszen, das hindertail zuͦsamen zuͦ drucken, damit die enge der wunden zuͦ weitern 12ᵃ; franz. bec de grue und so neben storchenschnabel auch kranischschnabel bei Blancard (1710) 4 (um steckengebliebenes aus dem hals herauszuziehen Krünitz 174, 593, mögliche beziehung zu der fabel vom kranich und fuchs).
γ)
aus langen balken bestehendes hebezeug für lasten (wie kranich th. 5 sp. 2017 u. 2022 unter 2 a) Krünitz 174, 593; Adelung. nur dasz krahn, kranich die poetische belebung der maschine stärker durchführt, doch vgl. oben storchschnabel 2 als 'pars pro toto' und mlat. ciconia 'brunnenschwengel, brunnenstange' Diefenbach gloss. 117ᶜ, wie noch span. cigueña (anderseits zu erwägen, ob für den vorgang der übertragung nur der schnabelartig sich bei der arbeit niedersenkende hebel der maschine in ansatz zu bringen ist, s. oben unter 2).
δ)
bei einem pumpwerk zwei sich auf einer welle bewegende hebelarme, welche durch zwei darauf angebrachte schraubengewinde (mit einander entgegengesetzter richtung) bald zusammen und bald auseinander gespreizt werden Krünitz 174, 589.
ε)
(in der zeichenkunst) ein geräth zur mechanischen vergröszerung oder verkleinerung von zeichnungen (mehrere unter einander verbundene, in gelenken parallelprogrammförmig sich bewegende lineale, deshalb 'parallelogrammum delineatorium') sonst auch proportionalzirkel, und wegen seiner vielseitigkeit pantograph Krünitz 174, 590; Helfft landbaukunst 349; Karmarsch-Heeren³ 4, 749, eine andere bezeichnung affe (? als schülerwitz) Adelung, besonders gebraucht beim landkartenzeichnen und bei der silhouettierkunst: ich habe diesen kopf des Apollo (von Belvedere) zweymal nach dem schatten und hernach vermittelst des storchschnabels ins kleine gezeichnet Lavater physiogn. fragm. 1, 134 (Lichtenberg verm. schr. 2, 190); jedermann war darin geübt (im ziehen von schattenrissen), und kein fremder zog vorüber, den man nicht abends an die wand geschrieben hätte; die storchschnäbel durften nicht rasten Göthe 33, 211 Weim. (vgl. schriften der Göthe-gesellsch. 16, 58); es befand sich ein jüngling in der gesellschaft, der nach dem storchenschnabel silhouetirte Castelli 10, 38; ich fühle, wie meine antworten zu ihren briefen sich verhalten, wie ein schattenrisz mit dem storchschnabel zu einem gemälde von Correggio Pückler briefwechsel 5, 456. — in weiterer übertragung auf die schildernde feder: besonders die biographischen möbeln und heiligen örter, die ich gerade diesen morgen unter meiner feder oder meinem storchschnabel gehabt Jean Paul 3, 145 Hempel.dann auch bildlich (in der kunst des schriftstellers) mit bezug auf umriszartig gehaltene schilderungen: ich will diesen letzten nachmittag so weitläuftig als möglich entwerfen und nachher den risz doch noch mit dem storchschnabel angenehmer hommelscher plapperei ins grosze zeichnen 3, 160; die verfassung unseres merkwürdigen reichsplatzes Kuhschnappel scheint ursprünglich der vorrisz gewesen zu sein, welchen Bern, das am ende nahe genug liegt, in der seinigen kopierte, aber mit dem storchschnabel ins gröszere Siebenkäs 1, 74; (sie betrachten) den rezensenten als einen lebendigen storchschnabel, der ihnen die weitläuftigen umrisse (bringt) A. W. Schlegel im Athenäum 1, 143, vgl. für einen solchen moralischen storchschnabel giebt niemand etwas in einer kritik der 'moralischen silhouetten' allgem. deutsche bibl. 44, 282; (verfasser), die die spanische geschichte mit dem storchschnabel aufgenommen Börne 7, 140; (wohl mit rücksicht auf das in einer gutgezeichneten silhouette enthaltene charakteristische einer person:) und wie bringen wir alle diese einzelheiten durch den storchschnabel in ein einiges sprachfertiges kunstwort? Fr. L. Jahn 2, 614.
ζ)
(jägersprache) 'ein gabelförmiges holz, welches hühnerhunden unter den kinnbacken angebracht wird, damit sie nicht mit der nase zu nahe am boden suchen' Behlen 6, 206.
c)
als pflanzenname der weitverzweigten familie 'geranium L.' (umfaszte früher auch die gattung der kranichschnäbel, th. 5 sp. 2022 [jetzt 'pelargonium'] und reiherschnäbel, th. 8 sp. 661 [jetzt 'erodium'], und so volksthümlich auch heute noch nicht unterschieden, vgl. Martin-Lienhart 2, 492ᵇ). mit rücksicht auf den schnabelförmig verlängerten fruchtboden der samenkapseln:
storchschnabel, die lustige blume, sie schneidet ein spitzes gesicht,
den vogel storch zu ärgern, allein sie ärgert ihn nicht
G. Freytag 1, 315
(Bettine Günderode 2, 149; D. v. Liliencron werke 4, 235); storckenschnabel, vehinastrum, acus pastoris Diefenbach gloss. 609ᵃ (Junius); nl. entsprechend oyevaersbeck 11ᵇ (ebenda und danach Tabernämontan); gruaria 270ᶜ (vgl. zu adebar die einleit. von storch und th. 1 sp. 176); storchenschnabel, cronopodia Diefenbach nov. gloss. 121ᵃ (voc. v. 1429); künigschnabel oder storckenschnabel acus muscata Gersdorff wundarzney (1517) 89ᵇ; geraunium, geranogerion, herba gruma, cicutaria, ... rostrum ciconiae kranchschnabel, storckenschnabel, scherlingkraut Alberus (1540) DD 4ᵇ (Bock [1553] 115); im zweifel ettlich den storckenschnabel ... für das kleiner schelkraut halten Ryff confectbuch (1548) a 5ᵇ (s. schellkraut chelidonium th. 8 sp. 2504); storckenschnabel, kranchshals, taubenfusz, geranion Calepinus 612ᵇ (kranichhals th. 5 sp. 2022, insbesondere 'geranium dissectum L.' noch: storckenschnabel, geranium Corvinus fons latinit. (1646) 400; eine salbe fürs hauptwehe: (man) bestreichet darmit die schläff, und bindet frischen storchschnabel um die stirn Hohberg georgica 3, 210ᵇ (Harsdörffer frauenzimmergesprechspiele 1, L 6ᵇ). — vereinzelt für unsere pflanze schnabelkraut (th. 9 sp. 1147). — zahlreich sind die arten; ihre zusammenstellung in der neunzahl spiegelt wohl ihre volksthümliche werthung als heilpflanze (vgl. neunkraft th. 7 sp. 683) nimb storchschnabel, ist ein gemein kraut, dessen die neunerley art ist, man musz das mit braunen blümlein nehmen viehbüchlein 17. — im einzelnen hervorzuheben: geranium sanguineum L. (wie die folgende) alte heilpflanze; wohl gemeint: storcksnabel, geranium physica Diefenbach nov. gloss. 190ᵃ (hl. Hildegard), sturchsnabel (Trochus) storkenschnabel (Tabernämontan) herba rubea Diefenbach gloss. 275ᵃ; sonst auch blutkraut (th. 2 sp. 186), blutwurz (sp. 197). — stinkender storchschnabel, geranium Robertianum L. (deshalb Roberts-Ruprechts-Rupertskraut th. 8 sp. 1534), wie das vorige ein mittel gegen rotlauf; auch gottesgnade Holl 366ᵃ. — feinteiliger storchschnabel, geranium columbinum L. Krünitz 174, 597, sonst auch taubenschnabel (th. 11 sp. 176). — der blaublumige wiesenstorchschnabel 'geranium pratense L.': storchschnabel, welches blaue blümlein hat Mich. Böhme viehartzney (1682) 3. — geranium bicolor, zweyfarbiger storchschnabel allg. deutsche biblioth. 113, 178, wohl gleich 'geranium Robertianum L.'; als charakterisierendes gewächs in der fruchtbringenden gesellschaft: der kleine storchschnabel mit runden rot- und weisgestreiften blümlein Neumark neuspr. teutsch. palmb. (1668) 284, wohl kaum gleich 'geranium pusillum L.', welcher bläuliche blüthe hat. — windischer storckenschnabel, echinastrum Tabernämontan bei Diefenbach gloss. 194ᵇ, jetzt böhmischer storchschnabel, geranium bohemicum (?)
d)
elsäss. storkeschnawel, eine birnenart mit langem stiel Martin-Lienhart 2, 492ᵇ.
e)
eine stachelschneckenart (murex haustellus L.) Nemnich, sonst löffel (th. 6 sp. 1123 unter 8) und schnepfenschnabel, schnepfenkopf (th. 9 sp. 1315).
4)
in weiterer zusammensetzung storchschnabelart, f., allgem. deutsche bibl. 107, 482; Campe zu 3, cdazu storchschnabelartig, adj., ebenda; Dietrich 8, 549. —
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 3 (1921), Bd. X,III (1957), Sp. 382, Z. 11.

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Zitationshilfe
„storchenschnabel“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/storchenschnabel>.

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