Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

zuflucht, f.

zuflucht, f.,
ahd. mhd. zuofluht Graff 3, 767; mhd. wb. 3, 347ᵃ; Lexer 3, 1200.
1)
es ist zunächst übertragung von refugium ps. 9, 10; 90, 1; 91, 2; 104, 18; Jerem. 16, 19; 2. Sam. 22, 3, von Notker ab, von Luther meist beibehalten: unde truhten ist zûfluht dero armon Notker 2, 24 P.; und der herre ist gemachet ein zuͦflucht dem armen erste d. bibel 7, 252 K.; truhten dû bist uns zuofluht uuorden, in geburte unde in geburte Notker 2, 377 P.; herrgott du bist unser zuflucht für und für Luther ps. 90, 2; die hohen berge sind der gemsen zuflucht, und die steinkluft der kaninichen ps. 104, 18. so stets in den anwendungen der biblischen stellen, z. b. P. Gengenbach 157 Gödeke; Fischart gesangbüchl. 181 Kurz; P. Gerhardt 3, 439ᵃ Fischer - Tümpel. Luther braucht es sinngemäsz auch wo die vulg. refugium nicht bietet; z. b. ps. 57, 2; Jes. 4, 6; 28, 17; Joel 3, 21. auch die auszerbiblische anwendung beschränkte sich lange auf den religiösen gedankenkreis: derselb (gott) ist unser sterck, unser kraft und zuͦeflucht Berth. v. Chiemsee 434; er ist unser zuversicht! unser zuflucht und sonst niemand! Luther 19, 578 W.;
Maria, stella maris,
zuofluht des sunderis
Arnsteiner marienleich 229;
an dich, der werlde zuflucht,
erliche maget, ist meyne flucht
pilgerfahrt des träumenden mönchs 11056.
2)
zuerst, wie es scheint, bei dem verfasser des ackermanns aus Böhmen u. dann dem humanisten Albrecht v. Eyb, u. immer mehr seit der reformation tritt das wort aus dem engeren religiösen bereich in den allgemein menschlichen hinaus. die fühlung mit dem vorbild geht erst allmählich, und zwar deutlich seit dem übergang zum 19. jh., verloren. dabei besinnt sich das wort gleichsam auf seinen anschaulichen inhalt, den in der bibel nur ps. 104, 18 zeigt.
a)
es ist die flucht an einen schutzgebenden ort.
α)
es wird als verbalsubst. deutlich empfunden: wo sol ich trost suchen? wohin sol ich zuflucht haben? wo sol ich heilstet finden? ackermann a. B. 27 Bernt; die zuͦflucht der frauen ist alltzeit zuͦ den zäheren Albr. v. Eyb d. schr. 2, 134 H.; und die hundert meiln darvon wonen, haben nicht des minder dahin ihr zuflucht Fischart bienenkorb (1588) 265ᵇ; denn gerade aus der sogenannten natürlichkeit ist ... keine andere zuflucht als in die manier Göthe III 2, 290 W.; Bouillon ... nahm seine zuflucht nach Genf und nach Deutschland Ranke 9, 70; in der heiszen jahreszeit ..., wenn man ... vor der sonne zuflucht suchte Fontane I 5, 122.
β)
die bedeutung der hilfe, rettung, die man sucht, überwiegt in den als einheit gefaszten wendungen zuflucht nehmen, älter haben zu u. ä., wenn das ziel eine person ist, vgl. sp. 198, 6 b: zuͦ wem ich alsdann mein zuͦflucht wölle nemmen Schaidenreiszer Odyss. 84ᵇ; sie nahm ihre zuflucht zum arzte Rabener s. w. 1, 218; zu wem soll die gesammte europäische menschheit ihre zuflucht nehmen, als zu einem allgemeinen höchsten gericht ebenbürtiger Herder 23, 29 S. noch mehr schwindet die raumvorstellung, wenn das ziel ein werkzeug, mittel, ein gedanke, ein thun oder zustand ist: und di zuflucht zu sîme gebete gehabit haben Hermann v. Fritslar d. myst. 1, 236 Pf.; seine äuszerste zuflucht hätte er zu dem degen Happel akad. roman (1690) 566; der myops .., der zu concaven gläsern seine zuflucht nimmt Lessing 10, 376 M.; ohne zu hyperbeln unsere zuflucht zu nehmen Göthe 7, 133 W. s. auch th. 7, 530, 5.
γ)
so bekommt es einfach den sinn von hilfe, rath, trost, zuversicht u. ä., mit denen es sich gerne paart: on hilff und on zuͦflucht Frisius 662ᵃ; widder sein macht ist keyn auffenthalt, kein trost, kein zuͦflucht Hutten 2, 127 Böcking; dasz der bapst noch wird etlichs theils ein zuflucht haben von denen von Österreich, das ist ein beschirm, ein beystand Paracelsus op. (1616) 2, 583. es wurde früher geradezu gleichbedeutend mit zuversicht gebraucht: so sollen wir unser zuflucht und verstandt dester mehr setzen hie an das orth 1, 1045ᶜ; zuflucht setzen zu Guarinonius greuel der verwüst. (1610) dedic. a 2ᵃ, auf Menantes neue briefe (1723) 235.
b)
der schutz wird an einem ort gesucht: es war ein freyheit und zuͦflucht yederman in deinem läger Frisius 1026ᵃ; ihrer freunde halber, die bey ihnen über dem Rheine zuflucht gesucht hatten Lohenstein Arminius 1, 17ᵇ (1689); wer unter dem niedern dach (des pfarrhauses) seine zuflucht gefunden hat, der ist wohlgeborgen W. Raabe hungerpastor 3, 241; zuflucht und aufnahme Fontane I 6, 355; zuflucht bieten, geben, gewähren, gönnen; asilum ein husz der zuflucht Diefenbach 54ᵃ; die stadt der zuflucht Abr. a St. Clara mercks Wien (1680) 31; zum orte der zuflucht Herder 16, 82 S.
c)
die zuflucht ist der ort, an dem man zuflucht findet, ein asyl.
α)
eigentlich. schon alte glossierungen stellen es zusammen mit asylum, freiung, vristeyde, vryhuys off platz vor die verbande, ballinghe Diefenbach 54ᵃ; nov. gloss. 145ᵇ. weiter mit underschlauf Frisius 1121ᵇ; 1264ᵇ; vgl. noch 294ᵇ; Maaler 526ᵃ: (er) wolt, dasz dieselb stat (Agrippina) solt fortalicium oder egschlosz, zuflucht und ein veste purck sein chr. d. st. 3, 37; die ... landesnoth erfordert es, dasz euer dorf in eine stadt verwandelt werde. wir haben sonst in kriegeszeiten keine zuflucht J. Möser 1, 270;
in demselben
Karthäuserkloster, das schon lange zeit
die zuflucht unsrer freundschaft war gewesen
Schiller 5, 385 G.
übertragen: ein ... land ... wo natürliche zauberbücher die zuflucht der ärzte ... sind Lichtenberg nachlasz 11, 7.
β)
insbesondere von der person, die rettung bietet, wie in der biblischen anwendung: so erwel dir selber etlich erber und götlich frowen, ... die din zuͦflucht und ufenthalt sien Seuse 484 Bihlm.; (die frau) sol dir sein tag und nacht ein ainiger trost und zuflucht Albr. v. Eyb d. schr. 2, 155 H.; weiland Adolff Wilhelm von Dornberg, dem groszen liebhaber und zuflucht aller gelerten, musicanten und künstlern Kirchhof wendunmuth 2, 256 lit. ver.; diese (die mitschüler) sind die zuflucht ihrer freunde Schiller 1, 17 G.
d)
die vorstellung der flucht tritt hervor in den festen verbindungen letzte, einzige zuflucht u. ä.: die letst zuͦflucht zehanden nemmen Frisius 396ᵃ; wir habend nun noch die einig zuͦflucht uns zuͦ erretten 124ᵃ; anhaltende beschäftigung ist nunmehr meine einzige zuflucht Göthe IV 27, 198 W.; (Marwood:) wie hasse ich dich, niedrige verstellung! ... weil du die armseligste zuflucht der ohnmächtigen rachsucht bist Lessing 2, 324 M. es berührt sich gelegentlich mit ausflucht: diser trostlosen und verzweyffleten entschuldigung und zuͦflucht Frisius 980ᵃ; eine blosze zuflucht der unwissenheit Reimarus wahrheiten d. nat. religion (1766) 138.
3)
die zusammensetzungen gehören den letzten 3 jhh. an, besonders dem letzten. sie zeigen, mit ausnahme von solchen wie zufluchtsuchend Rückert 12, 65, regelmäszig die form mit s. die bedeutung ist meistens die örtliche, s. 2 b, wofür beispiele nachher.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 3 (1924), Bd. XVI (1954), Sp. 360, Z. 32.

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Zitationshilfe
„zuflucht“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/zuflucht>.

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