Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

zugreifen, v.

zugreifen, v.,
mhd. zuogrîfen mhd. wb. 1, 570ᵃ; Lexer 3, 1183, in einer bestimmten richtung greifen, verdeutlicht und verstärkt greifen, s. th. 4, 1, 6, 17ff. dabei werden faust oder hände besonders in übertragener anwendung gern hinzugefügt: mit beiden händen zugreifen.
1)
es stellt die blosze handlung. des zugreifens dar, ohne bestimmte vorstellung von etwas ergriffenem.
a)
eigentlich: so haben sie (die adler) doch den krummen zugreiffenden schnabel S. Franck chron. zeytb. (1531) 119ᵃ; du greifst mit der hand hinten zu. ich fürcht sie werde dir stinken Kirchhofer schweizer. sprichw. 238; zugegriffen, nichts erhascht Hippel lebensläufe 1, 352; die gezwungene stellung der hände ... scheint blosze carricatur vom leichten zugreifen und anfassen H. Meyer gesch. d. bild. künste 1, 35; das zugreifen ist doch der natürlichste trieb der menschheit. greifen die kinder nicht nach allem, was ihnen in den sinn fällt? Göthe 19, 127 W.
b)
insbesondere vom handanlegen bei einer arbeit, wie anfassen, anpacken:
kumbt und greiffet alle geleich zue,
das wier den trugner mit dem creutz erheben!
altd. passionssp. aus Tirol 406 Wackernell;
und da sie kamen zur tennen Nachon, greiff Usa zu, und hielt die lade gottes, denn die rinder tratten beseit aus 2. Sam. 6, 6; ein häuptman aus Griechenlandt war auch so heszlich, das ihn auff ein zeit die wirtin im hausz für ein lausichten knecht ansahe und hiesz in auch zugreiffen und holtz in die küchen tragen Er. Alberus fabeln 9 ndr.; einer davon ... fischte ihm seine schriften wieder auf ..., der andere aber wollte auf keine weise zugreifen Göthe 43, 295 W.; wegen kecken zugreifens im rechten augenblick hatte der capitän freiwillig seine heuer erhöht Storm 6, 19.
c)
im streit, sich mit angreifen berührend: ihr (die römischen geistlichen herren) kratzent einander die augen aus, und wo ir die sterckste seind, greiffent ir frei zuͦ auff diejhenige, die ihr dennoch sollent beschirmen Sleidanus reden 106 Böhmer; der kellner griffe auch zu, stiesz ihn ... hinunter Abr. a St. Clara etwas für alle 2, 34; ja, sagte er, wenn ich zugreif, da ists nicht zum spasz O. Ludwig 2, 335.
d)
so wird es allgemein seit der 2. hälfte des 18. jhs. vom entschlossenen, lebhaften, kräftigen handeln gebraucht: unterdrücke dein zu zartes gefühl, und winsele nicht, wo du zugreifen solltest Knigge umgang 2, 238; Lessing erledigte, wo er ernsthaft zugriff, Herder hat auch in seinen vollendetsten werken nur keime gelegt Gervinus g. d. d. dicht. 4, 424; er fühlte selbst seine energie gesteigert, sein denken klarer, sein zugreifen fester und knapper werden Polenz Grabenhäger 2, 117. militärisch: festes, rasches, kräftiges, entschlossenes zugreifen.
e)
in älterer zeit bezeichnete es einfach das herangehen an einen handlung, aggredi rem Dentzler 2, 367ᵃ:
daʒ si balde âne twâl
griffen zuo mit der wal
Ottokar österr. reimchr. 5344 Seemüller
(ähnl. 15 512); der richter grieff fein zu und liesz ihn martern Chr. Weise die drey klügsten leute (1675) 170; hätten die regenten alsbald zugegriffen und sich zum christenthum bekant G. Arnold kirchen- und ketzerhist. (1699) 32ᵃ.
2)
es schlieszt das ergreifen in sich: greif zuͦ, ehe dir die händ gebunden werden sch. w. klugr. (1548) 79ᵃ;
nach diser mustrung (dem lausen) griff er zu,
legt an sein knyhosen und hemm
H. Sachs 17, 339 G.;
(Felix) hastig zugreifend, fing sogleich zu schälen an Göthe 24, 71 W.; der anker greift zu Bobrik 28ᵇ. besonders in bestimmten anwendungen.
a)
menschen anpacken, ergreifen: greift zuͦ, ir faulen schelm, und pindet im wol die hend Albrecht v. Eyb d. schr. 2, 42; (die knaben) gleiteten, griffen zu und zerrten immer einer den andern hinunter Göthe 25, 49 W.; das in dem Judaskusse liegende: dieser ist's, konnte auf die leute keine andre wirkung machen, als dasz sie sofort zugriffen D. Fr. Strausz 4, 300.
b)
beim essen, wie zulangen: wenn du bei vielen sitzest, so greiff nicht am ersten zu Jes. Sirach 31, 21 (ähnl. H. Sachs 19, 310 G.); wenn man nicht zugriffe, wie wolt man essen? Petri 2, p p p 6ᵃ;
an unsers himmlischen vaters tisch
greift wacker zu und bechert frisch
Göthe 3, 270 W.;
beliebt's euch, überall zu naschen,
im fliehen etwas zu erhaschen,
bekomm' euch wohl, was euch ergetzt.
nur greift mir zu, und seid nicht blöde!
14, 84 (Faust 1764).
c)
allgemein zugreifen, um etwas an sich zu nehmen:
spadilje fiel, und fras
für seinen banquier zwölf blanke carolinen;
der banquier grif zu, und mit gelassnen mienen
senkt er das neue gold in seinen sack hinab
Zachariae poet. schr. 1, 227;
sie ... schlug sie (die schuhe) aneinander ... 'greif zu, goldkind', rief sie, 'greif zu!' Storm 1, 73;
gott versah uns mit zwei händen,
dasz wir doppelt gutes spenden;
nicht um doppelt zuzugreifen
H. Heine 2, 76 E.;
sollte Preuszen mit leeren händen dabei (bei der theilung Polens) ausgehen, während Ruszland und Österreich zugriffen? Göthe gespr. 8, 128 B.
d)
insbesondere bei einem angebot, einer gelegenheit, einer wahl, was sich mit 1 d, 2 b berührt: gott beschert alles guts, aber du must zugreiffen, und den ochsen bei den hörnern nemen Petri 2, p p p 1ᵃ; greifft zu, ihr solt gevatter werden Lehmann floril. 3, 136;
gelegenheit ist da, nun, Fauste, greife zu!
Göthe 15, 253 W. (Faust 10 239);
greif zu, einnehmer, greif zu! jung gefreit, hat niemand gereut Eichendorf 3, 34.
e)
an sich nehmen, was einem nicht gehört: wo viel zugreiffens ist, alles wol verschlieszen Jes. Sirach 42, 6 (sprichwörtl. geworden); darumb das zugreiffen wenig nutz bringt da man das recht haben kan B. Hertzog chr. Alsat. (1592) 5, 17; da fienge ich an zuzugreiffen wie ein Böhm Grimmelshausen 1, 351 Keller; denn man könne ja ungestraft wie nach herrenlosem gute eines geächteten oder verschollenen zugreifen Raumer Hohenstaufen 4, 245; mochtest du (Euripides) auch mit gierigem zugreifen alle gärten der musik plündern Nietzsche 1, 77. sprichwörtlich: greiff zu, so werdet ihr desto eher gehenckt Lehmann 3, 134; greiff zu heiszen seine finger Friedr. Wilhelm sprichw.-reg. s 2ᵃ (ähnl. sch. w. klugr. 96; Eyering prov. copia 3, 299). Greifzu als hundename, wie Packan.
3)
das pt. präs. ist im 19. jh. zum adj. geworden als 'entschlossen', 'energisch': sein guter stern wollte, dasz der stoff ihm ... unter die derb zugreifende faust gerieth Immermann 18, 201; er ist ein tüchtiger und zugreifender mensch S. Hensel fam. Mendelssohn 1, 110; das ergebnis einer scharfblickenden und kühn zugreifenden politik H. Prutz preusz. gesch. 3, 23; sympathisch in seiner überall zugreifenden kraft und entschiedenheit Scherer literaturgesch.⁷ 119. aber Grillparzer: nur der thor und der aufgeblasene ist zugreifend und rasch 14, 114 Sauer. in der scholastik war zugrifende vornunft, behendekeit der vornunft intellectus practicus K. v. Heinrichau voc. 399ᵇ Gusinde. als subst.: es bezeichnet .. einen .. fortschritt, dasz nicht der einzelne gläubiger .. als zuerst zugreifender den vorzug vor den übrigen hat hdwb. d. staatsw. 5, 289.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 3 (1924), Bd. XVI (1954), Sp. 439, Z. 1.

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Zitationshilfe
„zugreifen“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/zugreifen>.

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