Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

verraten, verb.

verraten, verb.
bekennen, was unbekannt bleiben sollte, mhd. verrâten, mnd. vorrâden (verb. nicht nachgewiesen, doch z. b. vorratenisse), ahd. farrâtan, ferrâten, in der übergangszeit zum nhd. veraten, verrauten Dief. 591ᶜ. zur form sei noch bemerkt, dasz der umlaut in der 2. und 3. person des sing. prät. nicht immer vorhanden ist, so Hebbel 8, 180 es verrathet ein achtungswerthes zutrauen. ursprüngliche bedeutung 'falschen rat geben, falsche unterstützung geben (s. oben 8, 174), irre leiten', dann 'eine sache auf ungehörige wege leiten' und in engerer bedeutung 'etwas nicht auf den weg der mittheilung gehöriges unbefugter weise mittheilen'. in der ältesten bedeutung finden wir es noch mhd., z. b.:
daʒ eine was diu minne,
diu im verriet die sinne,
daʒ ander sîner swester schœne
daʒ dritte der tievel hœne.
Hartmann Gregor. 153.
1)
im nhd. ist die bedeutung etwas verschoben, verraten heiszt zunächst 'einen einem andern durch falschen rat bekannt machen und in die hände liefern' und hat durchaus eine schlimme nebenbedeutung. so allerdings auch schon mhd.:
'daʒ tuon ich' sprach dâ Hagene,   'vil liebiu frouwe mîn'.
dô wânde ouch des diu frouwe,   eʒ sold ir frum sîn:
dâ mite was verrâten   der vil küene man,
urloup nam dô Hagene,   dô gie er vrœlîche dan.
Nibel. 818 Lachmann.
nhd., ohne object: diese Cleopatra ist ein weib, sie liebt und verräth zu gleicher zeit. H. Heine 3, 223. mit object, persönlich: was ist eine person, die da landesfürst ist unter so viel bösen buben und schelcken? so er unter jm, ja auch neben jm zur seiten hat .. die da gelt von jm nemen und jn gerne hülffen verraten, wenn gott selbs nicht seine ordnung erhielte. Luther 7, 74ᵇ; ein bruder unterdrückt den andern und ein freund verrhet den andern. Jer. 9, 4; die dein brot essen, werden dich verraten, ehe du es mercken wirst. Obadja 7; Jhesus aber sprach zu jm: Juda, verrhetestu des menschen son mit einem kus? Luc. 22, 48. allgemeinere bedeutung: es waren auch viele hinauff gekommen, da verrieten sie die gänsz also, dasz Manlius durch sie erweckt aufkam. Kirchhoff wendunm. 4, 79 Österley;
wer syn zung und syn mundt behüt,
der schirmt vor angst seel und gemüt,
ein specht sein jung mit gschrey verriet.
Brant narrensch. 18, 2 Zarncke;
es wart verrotten auch alsus
der wissag Amphiaraus.
51, 5 Zarncke;
mein gott, wölst doch bewaren
den treuen diener dein,
dasz sie mich nicht verrathen
in jhrem bösen mut.
Soltau volksl. 432 (1568);
meineidig dir, Zamor, dir Gusman ungetreu,
wer macht mich von dem zwang, euch zu verrathen, frei?
Gotter 2, 415.
mit dativ desjenigen, dem man einen verrät: also hat uns gott jn verrahten und uns gewarnet, das wir uns der tück und schalckheit wol zu jm versehen sollen. Luther 4, 21ᵇ; und sprach, was wolt jr mir geben, ich wil jn euch verrhaten? und sie boten im 30 silberlinge. und von dan an suchet er gelegenheit, das er jn verrhiete. Matth. 26, 15. 16;
das war der bös Ischarioth,
der seinen herrn der bösen rott
geschworen und verrathen.
Paul Gkrhardt 12, 27 Gödeke.
bildlich:
mich selbst hat eine sorge gleich gewarnt,
dasz der betrug nicht eines räubers mich
vom sichern schutzort reisze, mich der knechtschaft
verrathe.
Göthe 9, 94.
mit präposition: verrate den knecht nicht gegen seinem herrn, er möchte dir fluchen und du die schuld tragen müssen. spr. Sal. 30, 10; derselbe sy euch gegen den könig fälschlich verrahten und verkaufft hat. buch der liebe 255, 2. object eine sache, bekannt machen, was geheimnis bleiben soll, mit gehässiger nebenbedeutung: und ob jemand alle ehebruch, mord und raub begangen, land und leute verrhaten, vater und mutter erwürget, schwester geschendet. Luther 2, 50ᵇ; die menner sprachen zu ihr, thun wir nicht barmhertzigkeit und trew an dir, wenn uns der herr das land gibt, so sol unser seele fur euch des tods sein, so fern du unser geschefft nicht verrhetest. Jos. 2, 14; es schreibt Clemens wider etlich die die ehe verrathen, ob sy sich besser geduncken, dann die apostel Petrus und Philippus. Frank chron. 390ᵇ; böses, schlimmes angeben: unsre list ist verrathen, alles ist offenbar. Lessing 3, 52; daher die sprichwörter 'er hat das schieszpulver nicht erfunden, er wird das land nicht verrathen, er ist kein hexenmeister' menschenfeindliche grundsätze verrathen: dasz man nämlich bei voraussetzung eines guten willens der menschen, die wir kennen, doch nicht sicher sein könne, sondern nur beim unvermögen derselben. Kant 10, 218; wäre nicht die falschheit, da nämlich unter vielen sich zum complott vereinigenden bösewichtern in groszer zahl ... immer einer sein wird, der es verräth. 10, 307;
eyn spächt verradt mit syner zung,
das man syn näst findt und die jung —
mit swigen man veranttwurt vil,
schaden entpfoht, wer schwätzen wil.
Brant narrensch. 19, 23 Zarncke;
bey yederman bin ich (der bettelmann) unwert,
zu herbergen mich niemandt begert.
dörffer und stedt man mir verbeut,
man spricht, ich verrat land und leut.
H. Sachs 2, 4, 2 (9, 8, 35 Keller-Götze).
mit etwas erweiterter bedeutung, preisgeben: unbedingt liebe ich letztern (Napoleon) nur bis zum achtzehnten Brumaire .. da verrieth er die freiheit. H. Heine 2, 129. partic. und participialconstruction:
ach warum hat, ruft meine stimme,
gott seinen blick von dir gewandt?
o du, der hirnwuth und dem grimme
der heiligen verrathnes land!
Thümmel 5, 461;
der arme papst, in verzweiflung sich von innen und auszen verrathen zu sehen, widerrief seinen befehl. Göthe 34, 111. beliebte formelhafte zusammenstellung: verraten und verkauft, also preisgegeben nicht nur durch die gesinnung, sondern auch in folge bestechung des verräters: ein gebohrner ehrlicher Teutscher weisz alsdann nicht, ob er verrathen oder verkaufft, ob er unter narren oder klugen sitze. Simplic. 4, 463 Kurz;
verrathen und verkauft
bin ich schon längst von eurer seherzunft.
Stolberg 14, 63.
gegenübergestellt: und weisz (er) schier nicht, ob er verrathen oder verkaufft sey. Cyr. Spangenberg jagdteuffel (Frankf. 1566). eine eigenthümlich bildliche benützung des wortes bei Wieland: und sogar der göttliche Plato ... wurde von seiner dichterischen einbildungskraft so sehr verrathen, dasz er die gefahren zu vergessen schien, die unter den bezauberungen des ortes und unter dieser verschwendung von reizungen zum vergnügen lauerten. 2, 309.
2)
bekannt machen, was eigentlich unbekannt hätte bleiben sollen, aber ohne gehässige nebenbedeutung: das gold sol auch das gifft inn einem vergifften wein verraten. Mathesius Sar. 59ᵇ (1562);
das angesicht verrath dich klar,
dasz du bist Solis kind fürwar,
welchs so glat lauter ist und rein
gleichwie die löchricht baderstein.
Fischart 1, 43, 1567 Kurz;
ich kenne dich, du blume dieser zeit,
du zier und spiegel aller jugend,
der rautenkrantz, die freundlichkeit
verräthet dich, o glantz der tugendt.
Opitz 1, 69;
das ist das ängstliche von meinem schicksal ..
dasz wo ich den gesundsten ort betrachte,
gar bald um mich die blühenden gesichter.
den schmerzenszug langsamen tods verrathen.
Göthe 9, 31;
will sie den herrn Damis heirathen? hat sie denn ihre herzensmeinung nicht verrathen? ich kann ja den rechtschaffenen mann nicht länger aufhalten. Gellert 3, 28; wir können mit seiner erlaubnisz nicht unerinnert lassen, dasz er bey dieser gelegenheit den stolz seines vaterlandes ein wenig zu sehr verräth. Rabener A. Pansas abhandl. v. d. sprüchw. 21 (1775); sie wollte sich ganz gelassen und kalt stellen. aber mitten in dem gleichgültigsten gespräche entfuhr ihr eine wendung, eine beziehung über die andere, die ihr gefoltertes herz verrieth. Lessing 2, 123 (Emilia 1, 6); ich liesz es noch gelten, wenn dann und wann eine person ein wort sagt, das ihr so zu sagen aus dem munde wider willen entwischt und die verfassung seiner seelen bei unvermutheten zufällen gleichsam zu verrathen scheint. 3, 64; macht nicht karger verehrer der götter einen sehr schönen sinn, wenn man überlegt, dasz ein heide in erwählung schlechter opfer und in ihrer seltenheit eine sehr unehrliche kargheit verrathen konnte? 4, 35; wer mehr gründe verlangt, verräth meines erachtens lust, gar keine statt finden zu lassen; und wer mehrere beybringt, begierde lieber viele und schlechte als wenige und gute zu haben. 56; herr Wieland .. brauchte so hämische waffen, verrieth so viel hasz, einen so verabscheuungswürdigen verfolgungsgeist, dasz einen ehrlichen mann schauder und entsetzen darüber befallen muszte. 6, 14; man gebe ihm (dem alten) alle schönheiten, die mit seinem alter bestehen können, aber man mahle ihn verliebt, man lasse ihn jugendliche begierden verrathen, und er ist ekel trotz jener schönheiten allen. 8, 14; so würde ich ihn (Klotz) gern selbst entschuldigen; wenn er nicht in mehrern stücken eine allzuausdrückliche geflissenheit verriethe, seine leser wieder mich einzunehmen. 8, 15; die elende fabel, dasz Berengarius eine besondere neigung zur heterodoxie schon als schüler des bischof Fulbert zu Chartres verrathen habe .. 8, 362; auch hier schien Hilarie gleichstimmig zu denken, ob schon ein etwas ernster blick und ein manchesmal niederschauendes auge eine gewisse in diesem fall höchst natürliche bewegung verriethen. Göthe 22, 112; in den zimmern sind mitunter angenehme verzierungen, die aber doch einen unsichern und umherschweifenden geschmack verrathen. 43, 97; sind sie ein weltmann und wissen nicht, dasz die ängstlichkeit des spielens ein böses spiel verräth? Gotter 3, 22; welchen leichtsinn würde ich verrathen, wenn ich nicht diesen gnädigsten befehl ... erfüllen sollte. Schiller hist.-krit. ausg. 1, 3; ob aber das erröthen das bewusztsein einer schuld oder vielmehr ein zartes ehrgefühl .. verrathe, ist in vorkommenden fällen ungewisz. Kant 10, 203; (das ununterbrochene liebkosen) bestärkt das kind im eignen willen, macht es falsch, und indem es ihm eine schwachheit der eltern verräth, raubt es ihnen die nöthige achtung in den augen des kindes. 410; die schamröthe verräth uns wenn wir lügen, aber ist nicht immer ein beweis davon. 432; es ist schwer, den eindruck eines affects durch keine miene zu verrathen. 355; die auslegungskunst der mienen, welche unvorsätzlich das innere verrathen, aber doch hiebei vorsätzlich lügen, kann zu vielen artigen bemerkungen anlasz geben. ebenda; dem alles was er thut, leicht läszt, ist gewandt; so wie der dessen thun mühe verräth, schwerfällig. 147; der ganze aufzug verrieth einen menschen, der nicht viel auf sich hielt. Heyse kinder der welt⁴ 1, 54;
ach Violanta, lieber gott,
wie kanst begeren, das ich bleib,
dieweil dein grosz schwanger leib
wirdt unser beyder lieb verrathen?
H. Sachs 2, 3, 92 (8, 348 Keller-Götze);
der kenner sagt ihm frey heraus
dasz ihm das bild nicht ganz gefallen wollte,
und dasz es, um recht schön zu seyn,
weit minder kunst verrathen sollte.
Gellert 1, 135;
und ihm zur seite sasz ein fremder junger fant
in ritterschmuck, schön wie ein barer engel,
sein blaues aug und langes gelbes haar
verrieth, dasz Asien nicht sein geburtsland war.
Wieland Oberon 4, 47;
jener sanfte jüngling,
der so schwermuthsvoll den blick hinabsenkt,
dessen gang und tracht und edle haltung
keines ruderknechts geschlecht verrathen,
wer es ist, verkünde mir und gehe!
Platen 4, 336.
3)
reflexiv: wie schendlich hat Satan sich selbs verrhaten wider seinen willen, das er durch den bapst in diesem anfang die warheit gesagt hat. Luther 2, 11ᵇ; wes das hertz vol ist, des gehet der mund über und abermals aus deinen eigen worten wirstu verdampt. also haben sich diese schendliche tichter auch müssen durch ir eigen maul verraten und schenden. 5, 290ᵇ; weil der lügen art ist, das sy mit yhr selber nicht eins ist und sich selbst abrennen und verrathen musz .. Frank weltb. 112ᵃ; es gibt gut starck hart buben, die darnach die folter und ein strapekorden wol auszstehen können, wie auch der Spartaner, so den gestolnen fuchsz unter den mantel versteckt, und ihm ehe die halbseite wegfressen liesz, ehe er schreien und sich verrhaten wolt. Garg. 349 (1590); die natur hat dem menschen die schamhaftigkeit gegeben, damit er sich, sobald er lügt, verrathe. Kant 10, 426;
ein flusz verräth durch rauschen sich, dasz er sehr tieff nicht laufft,
ein bothe, dasz er müde sey, wann er sehr schwitzt und schnaufft.
Logau 1, 223, 24 (211 Eitner);
stolz, rachsucht, eigensinn hat sich in kinderthaten,
des lehrers schärferm blick oft männlich genug verrathen.
Lessing 1, 189;
schnöde thaten,
birgt sie die erd auch, müssen sich verrathen.
Shakespeare Hamlet 1, 2 v. Schlegel;
überdem so verräth sich eben dadurch die meisterhand eines biographen, dasz sie von Abbts werken auf seinen geist und von seinem geiste auf seine werke schlieszt. Herder phil. u. gesch. 13, 19 (1820); es ist schwer, den eindruck eines affects durch keine miene zu verrathen; sie verräth sich durch die peinliche zurückhaltung in der gebehrde oder im tone von selbst. Kant 10, 335.
4)
reflexiv verrathen, falsch raten, ein räthsel falsch lösen: ich dünkte mir zu bemerken, dasz das eigentliche bücherschreiben in Griechenland nicht vor dem siebenten saec. vor Chr. aufgekommen wäre und glaubte einzusehen, dasz der begeisterte rather Wood sich nur um anderthalb saecula verrathen haben möchte. Wolfs briefe an Heyne 7 (1797).
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 6 (1895), Bd. XII,I (1956), Sp. 985, Z. 8.

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Zitationshilfe
„verraten“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/verraten>.

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