Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

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rasen, m.

rasen, m.
cespes.
1)
der hochdeutsche ausdruck ist ahd. waso, mhd. wase, was sich in unserm wasen fortsetzt; der niederdeutsche wrase (Schiller-Lübben 5, 778ᵇ), der auf ein altsächs. unbezeugtes wraso weist. es wird angenommen, dasz die beiden lautlich sich so nahe stehenden, begrifflich übereinstimmenden worte im grunde éins seien, derart, dasz im hochdeutschen das r ausfiel (vergl. oben sp. 3, nr. 8). seit nachweislich dem 14. jahrh. hat sich die niederdeutsche form wrase nach Mitteldeutschland verbreitet, unter vereinfachung der für den nicht niederdeutschen mund unbequemen anlautverbindung zu r (soweit nicht fr dafür eintrat, wie im hess. frasen Vilmar 108, oder annäherung an gras gesucht wurde wie in cespes, grase Dief. 116ᵃ aus einem mittelrheinischen vocab. des 15. jahrh.): cespes, rase, rasen ebenda; aber es drang langsam vor, im 16. jahrh. cespes ein ras Alb. dict. ee 3ᵇ; in nord- und mitteldeutschen schriftquellen: ohnmächtig ... dasz man ihn auf den rasen legen musz. Schweinichen 1, 89; in einer redensart in den rasen beiszen, wie in das gras beiszen: der compter besprach sich mit den brüdern, die wolten lieber alle in den rasen beiszen, ehe dann den ungleubigen sich gefangen geben. Schütz Preuszen (1599) 79; wogegen es in den südlichen mundarten auch später nicht heimisch wird. es gehört der gärtner- und landwirtschaftlichen sprache an, wird aber auch ein beliebtes dichterwort.
2)
rasen heiszt zunächst ein rasenstück, ausgestochenes stück erde mit dem graswuchs darauf: rase, cespes Schottel 1382; rasen, cespes, terra in modum lateris caesa cum herba Steinbach 2, 217; wie nd. wrase: men mochte wol lemen unde wrasen graven up der Gotting-marke. Göttinger urk. von 1409 bei Schiller-Lübben 5, 778ᵃ; daher ein rasen und plur. die rasen: die rasen werden verbündungsweise, gleich wie man pfleget mit ziegelsteinen aufzumauren, gesetzet und geleget. Böckler kriegsschule s. 720; ein grüner rasen, cespes viridis, einen frischen rasen ausstechen, cespidem recentem exscindere Steinbach a. a. o.; an etlichen orten sticht man rasen, bringet sie zu haufen, lässet sie übers jahr liegen, und führet nachher solche auf die äcker. öcon. lex. 1980; im zusammenfassenden sing.: eine verzierung um die gärten, gemeiniglich um die wasserbecken, da diese mit ausgestochenem grünen rasen rund um am rande ausgeleget und umschlossen sind. Jacobsson 1, 510ᵃ;
doch seit Hans vor dem jahre, das fest der Luise zu feiern,
heimlich den sprudel getieft und mit höherem rasen umbordet.
Voss Luise 1, 325;
und bei Hölty in anklang an diese bedeutung:
ein blümchen sprosse, wann wir gestorben sind,
aus jedem rasen, welchen ihr fusz betrat.
Hölty 99 Halm;
als rechtswahrzeichen: wenn schulden halben die hülf gesucht wird .. so wird in die unbeweglichen güter verholfen, ists ein haus, so wird ein span aus der thür, aus dem weinberg ein reben, aus einem acker ein schrollen, aus wiesen oder andern feldungen ein rasen geschnitten und genommen als hülfzeichen. Coburger und Schalkauer stat. bei Grimm rechtsalt. 114; und so im rechtssprichworte einem den rasen abjagen, das eigenthum abgewinnen: ich habe mitfreidig vernommen, das er dem zankfesten N. den rasen abgejagt, ihn mit rechte überwunden, und die strittig gemachte erbschaft erhalten. Butschky kanzl. 599.
3)
daher rasen, die zu einer bank oder einem lager zusammengestellten rasenstücke (vergl.rasenbank): sich auf einen grünen rasen setzen, in vivum cespitem membra reponere. Steinbach 2, 217; sie wirft sich auf einen rasen, und weint. der junge Göthe 1, 136;
hier sitz ich auf rasen mit veilchen bekränzt.
lied um 1790;
die rasenstücke, mit denen ein grab bedeckt wird, und so das grab selbst:
o was nützt der marmor? schläft man etwan
einen süszern schlummer
unter ehrensäulen, als der landmann
unter seinem rasen?
Hölty 50 Halm;
mancher, dessen keimende talente
nie zur reife kamen,
ruht vielleicht hier unter diesen kreuzen,
unter diesen rasen (plur.).
51;
ein grünendes grab, von späteren rasen gewölbet (plur.).
Arndt ged. 88.
4)
rasen, zusammenhängende fläche, als träger des graswuchses:
das junge gras deckt itzt die frischen rasen,
von bunter bluhmen schmelz geziert.
Brockes 1, 12;
dort in jenen tiefen gründen,
wo schon junge rasen sein,
wollen wir euch wieder finden.
Picander 1, 5;
ein grüner rasen frischer erde
ist hier der grosze speisesaal.
3, 17;
doch wo das grün so dichte
um kirch und rasen steht.
Göthe 1, 128;
auf meinem stillen rasen
mir launen einzublasen;
den meister will ich sehn!
Voss 5, 95.
5)
endlich als collectivum und ohne plural, die fläche samt dem graswuchse oder der graswuchs selbst, eine verwendung, die Gottsched in seiner sprachkunst 1762 s. 537 zwar anführt (den rasen in sing. für die rasen in plur.), aber geradezu als grammatischen schnitzer hinstellt; wenige jahre später war sie allgemein:
entpflückt das mädchen
dich (veilchen) dem rasen.
Hölty 80 Halm (von 1772);
wenn der silberne mond durch die gesträuche blickt,
und sein schlummerndes licht über den rasen geuszt.
102 (von 1774);
du magst am fasttag öfter im fernen thal
auf rasen hingestreckt, mit ächten
alten Falerner dich selig trinken.
Mastalier gedichte (1782) 199;
und die hüpfenden lämmer grasen
lustig um ihn auf dem sonnigten rasen.
Schiller braut von Messina v. 874;
war mit rasen bedeckt ein weiter grünender anger
vor dem dorfe, den bauern und nahen städtern ein lustort.
Göthe 40, 284;
wie ein Atlas an gebärde,
hebt er boden, rasen, erde,
kies und gries und sand und letten.
41, 137;
am abhang weich gestreckt,
liegt man, vom baum bedeckt,
auf ungefährem rasen,
und sieht die heerde grasen.
Voss 4, 233;
und auf des schlosses rasen hebt an der ringeltanz.
Uhland ged. 325.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 1 (1886), Bd. VIII (1893), Sp. 130, Z. 38.

rasen, verb.

rasen, verb.
insanire.
1)
Megenberg bezeichnet das wort als ein düringisches: (nieszwurz) benimt auch den siehtum, der melancolia haiʒet, daʒ haiʒent die Dürgen râsen, wenn ain mensch mit im selber redet gämleicheu dinch. 400, 7; aber es war zu seiner zeit ein allgemein mittel- und niederdeutsches wort: dementare, rasen Dief. 172ᵃ; insanire, rasen, in niederrheinischer form raesen, raisen, raissen 300ᵇ; furire, rasen 253ᵇ; fantasiare, eisen, gruwen, rasen, doven nov. gloss. 166ᵇ; mnd. rasen Schiller-Lübben 3, 423ᵃ; unde sopen sik rasede (= rasende) dul. d. städtechron. 16, 453, 3 (Braunschweig, anf. des 16. jh.); niederl. raesen i. rasen, furere Kilian, dessen bedeutung auf der vorstellung einer ungestümen bewegung beruhte, wie sie in altnord. râs lauf, rennen, râsa ungestüm laufen, ags. ræs angriff, sturm, ræsan anstürmen, râsettan emporlohen, engl. race lauf, mnd. râs heftige strömung, niederl. raes aestuarium (Kilian) erscheint. obwol das verbum auch frühe in oberdeutschen quellen sich findet:
mich dunket, daʒ ir râset (: gelâset).
ges. abent. 3, 618, 205;
swer tobende râse
mit dekeiner sunden mâse.
H. v. Langenstein Martina 283ᵃ, 15;
war es doch dort im 16. jahrh. noch so wenig allgemein bekannt, dasz der Basler nachdruck von Luthers neuem testament es seinen lesern erklären muste: rasen, toben, unsinnig, fast zürnen. Fromm. 6, 43ᵇ; und die aussprache stand daselbst noch nicht fest, indem man theils geschärft sprach und demgemäsz rassen schrieb: so gehn wir umb umschanzen, prassen, rassen, danzen. Garg. 50ᵇ, theils den stammvocal lang nahm und ihn in ô übertreten liesz: delirare, raszen, rosen, roszen Dief. 172ᵃ (aus oberd. vocc.);
die wurden ganz unsinnig rosen,
liefen im land harum zuͦ tosen.
Wickram bilg. P 3, bl. 55;
erst seit dem ende des 16. jahrh. hat sich überall das wort in der heutigen form, auch in den oberdeutschen mundarten, festgesetzt.
2)
rasen heiszt
a)
intransitiv: vernunftlos sich gebaren, unsinnig reden oder handeln, von sinnen sein und es äuszern: da er aber solchs zur verantwortung gab, sprach Festus mit lauter stimme, Paule, du rasest, die grosze kunst machet dich rasend (μαίνη, Παῦλε! τὰ πολλά σε γράμματα εἰς μανίαν περιτρέπει). er aber sprach, mein thewr Feste, ich rase nicht (οὐ μαίνομαι), sondern ich rede ware und vernünftige wort. ap. gesch. 26, 24. 25; da sprach Achis zu seinen knechten, sihe, jr sehet das der man unsinnig ist, warumb habt jr jn zu mir bracht? hab ich der unsinnigen zu wenig, das jr diesen her brechtet, das er neben mir rasete? 1 Sam. 21, 15; aber was frage ich darnach? sie toben oder rasen, ich wil nicht wehren, das sie verdeudschen was sie wöllen, ich wil aber auch verdeudschen, nicht wie sie wöllen, sondern wie ich wil. Luther 5, 142ᵇ; wann darnach euch die köpfe vom wein erhitzet waren, da fiengt jhr an zu jauchzen, zu rasen und zu lören, wie unsinnige leuthe. Phil. Lugd. 3, 225;
der raset, der den tod herbei wünscht.   besser
in schande leben, als bewundert sterben.
Schiller Iphigenie in Aulis 5, 3;
man rast in liebe, in der fieberhitze (vergl. dazu unten 5, b, α): der kranke raset noch immer fort, aegrotus usque delirat, deliramenta loqui pergit. Stieler 1523; vor liebe rasen, ex amore insanire. Steinbach 2, 217; ich musz hin! und da will ich mich wieder gescheidt oder völlig rasend gaffen. Göthe 8, 51;
bin ich der einzig nüchterne und alles
musz um mich her in fiebers hitze rasen?
Schiller jungfrau von Orl. 2, 5;
Laura, träum ich? ras ich? die gedanken
überwirbeln des verstandes schranken.
das geheimnis der reminiscenz;
ich werde rasend, toll;
ist das ein wunder?
fort wächst der flötenton (des Cupido),
schall der posaunen (des Mavors),
ich irre, rase schon;
ist das zu staunen?
Göthe 5, 17;
sie tanzt mich rasend — ich werde toll —
sprich, weib, was ich dir schenken soll?
H. Heine 18, 44;
in schwärmerei, begeisterung, als dichter rasen: schwärmerei, die unter dem schutze einer schulmetaphysik wagen darf, mit vernunft zu rasen. Kant 3, 316; mit vernunft rasen heiszt: der form seiner gedanken nach zwar nach principien verfahren, der materie aber oder dem zwecke nach die diesem gerade entgegengesetzten mittel anwenden. 10, 211; wie die poeten oft über ihre eigenen werke vor bewunderung auszer sich gerathen und nicht mehr die spur verfolgen können, auf der sie bis zu dem hohen fluge gerathen sind; das nennt man dann ein heiliges rasen. Bode Montaigne 3, 41;
geht wo ein schulregent in einem flecken ab,
mein gott! wie rasen nicht die tichter um sein grab;
der tod wird ausgefilzt, dasz er dem theuren leben
nicht eine längre frist, als achtzig jahr gegeben;
die erde wird bewegt, im himmel lerm gemacht.
Caniz 98;
endlich auch von dem tollen treiben junger, noch nicht zu verstande gekommener leute: rasen etiam notat ineptire, petulantem, lascivum et protervum esse, ut juvenes, quando prae impotentia mentis lasciviunt, grassantur et bacchantur. hinc proverb. er hat noch nicht geraset, darum soll er meine tochter nicht haben, fervorem juvenilem nondum exuit et ideo matrimonio aptus haut est. Stieler 1522; junge leute rasen gerne mit einander, adolescentes fere mutuas nugas agunt, cum lupis ululant, intemperanter inter se agunt. 1523; alle haben wir einmal in der jugend geraset. exemplarischer priester (1690) 271.
b)
ein ungewöhnliches transitives rasen, durch unsinniges thun bewirken: hätt ich (spricht Jupiter) ihnen (den menschen) nicht das zeugungswerk mit so viel reiz verbunden, dasz sie es für das höchste glück des menschlichen lebens halten und in dieser sinnverwirrung mir immer neues spielwerk daherrasen. Klinger theater 3, 410.
3)
rasen, sich unsinnig gebaren aus zorn, wuth, schmerz, im höchsten grade zürnen, toben; in mehrfachen fügungen.
a)
rasen vor zorn, irae rabie agitari. Frisch 2, 87ᵇ; gieb achtung, wenn er raset, attende eum in rabiem prolapsum. Steinbach 2, 217; wenn er sich dagegen verhärten sollte? so werde ich nicht zürnen — ich werde rasen. Lessing 2, 16;
der wilde raszt schon an den mauern.
Schiller hist.-krit. ausg. 1, 128;
das flämmchen selbst, das ihr so eifrig angeblasen,
giebt euch zum argwohn stoff, und macht euch heimlich rasen.
Wieland 22, 291 (Oberon 6, 77);
begegn ihm, dasz er glaubt, du könntest ihn entbehren;
zwar wird er rasen, doch das wird nicht lange währen.
Göthe 7, 9;
sie raset und rennet und theilet die menge.
1, 253;
wie er schalt, mir fluchte, lästernd raste.
40, 399;
statt der person die leidenschaft als subject:
ohne begnadigung fiel der feind, und ohne verschonung;
überall raste die wuth und die feige tückische schwäche.
293.
b)
gegen, wider einen rasen: wieder einen rasen, in aliquem insanire. Steinbach 2, 217; Mellefont. sie rasen, Marwood — Marw. du erinnerst mich, dasz ich nicht gegen den rechten rase. Lessing 2, 31; wenn ich nicht gegen das unendliche rasen will. Herder z. phil. 4, 3;
mir kam ein schreckliches gerücht zu ohren,
der könig rase gegen kind und mutter.
Schiller don Carlos 4, 13;
doch mit verruchten mörderhänden gegen
mein theures kind, mein eignes blut zu rasen —
abscheulich!
Iphigenie in Aulis 2, 2.
c)
einen rasend machen, rasend sein, werden: rasend machen, rabie accendere, er ist rasend worden, furor eum invasit Frisch 2, 87ᵇ; gedult zu hoch angespannt, wirt rasend. Agr. spr. 321ᵇ; ist ein andrer nicht um so viel reicher? (sagt ein geizhals). ein andrer um so viel reicher! ich möchte rasend werden. Lessing 1, 148; 's ist zum rasend werden! so was kann mich fluchen und schelten machen wie ein weib. Fr. Müller 2, 124; ich möchte mir selbst was zu leide thun! sie werden mich am ende noch rasend machen! Göthe 11, 97; ihr seid rasend. der feind bricht auf allen seiten rein und ihr hadert! 8, 148;
der mären war der koch nit fro,
den braten warf er auf die erden,
und thet als wolt er rasendt werden.
Grobian. R 4ᵇ (v. 4486);
so ein lied, das stein erweichen,
menschen rasend machen kann.
Lichtwer fabeln 1, 21;
ein ungeheures wildes schwein,
das oft die winzer rasend machte,
ging auf den raub.
2, 10;
der teufel hohl das menschengeschlecht!
man möchte rasend werden.
Göthe 2, 289;
so geht es fort, man möchte rasend werden!
12, 72.
d)
dieses rasen in dichterischer sprache selbst transitiv: gräuel .. die allen wahnsinn übertreffen, den die menschen von ihrem beginnen gerast haben. Klinger 3, 23; indessen hatte seine gemahlin zeit, eine scene der verzweiflung mit ihrem buhlen zu rasen. 133; wie waget das werthlose, nichtsnützige ding zu rasen, das nichts als die sprache und gestalt von menschen hat? er raset ketzerei und verdirbt unsre jugend. 6, 148.
e)
unpersönliches rasen: es rast ein sinn aus seinen worten, der uns verräther schilt. Klinger 2, 47.
f)
gerne steht auch rasen von aufgeregten elementen, krieg, aufruhr u. a., im gesteigerten sinne von toben oder wüthen:
ich geb euch (winde) macht,
vom abend bisz zum morgen,
vom morgen bisz zur mitternacht
mit eurer wuth zu rasen.
Picander 1, 147;
rannen nicht viel der bäche, da sie, die erobrung,
raste?
Klopstock 2, 74;
aber rasete nicht schon öfters
des krieges verderbend gewitter
gegen Theresiens heiliges erb?
Mastalier ged. (1782) 50;
dumpf donnernd, wie die hölle
in Aetnas tiefen rast.
Matthisson ged. 132;
s ist heut Simons und Judä,
da rast der see und will sein opfer haben.
Schiller Tell 1, 1;
wenn der sturm
in dieser wasserkluft sich erst verfangen,
dann rast er um sich mit des raubthiers angst.
4, 1;
vergl. aber dazu auch unten 5, b, β.
4)
rasen, von einem schrankenlosen verlangen:
die, deren gaist und herz, von frechem übermuth
und hochfart aufgeblasen,
(als meine todfeind) mich mit tyrannei und wuht
zu tödten, rasen.
warum von der göttinnen schlimmster dich,
dich von der ehrbegier beherrschen lassen? ..
sieh! und nach dieser rasest du!
Schiller Phöniz. v. 555;
leyerklang aus paradises fernen,
harfenschwung aus angenehmern sternen
ras ich in mein trunken ohr zu ziehn.
hist.-krit. ausg. 1, 224.
5)
rasen blosz von ungestümen und heftigen bewegungen, wie toben, stürmen (vergl. dazu die urbedeutung des wortes oben 1); schon in oberdeutschen quellen des späteren 16. jahrh. bezeugt, die stelle aus Garg. 50ᵇ oben unter 1;
(die kinder) thund anders nichts dann spielen, raszen.
Wickram bilg. 44ᵃ;
gern auch in der neueren sprache.
a)
von personen: nun sprang sie auf, und raste, die schellentrommel in der hand, um den tisch herum. Göthe 19, 212; nahe um die stadt unter dem ersten thore rasete die schuljugend. J. Paul flegelj. 1, 160;
doch hör ich auf schalmaien
den schäfer nur blasen,
gleich möcht ich mit zum reihen
und tanzen und rasen.
Göthe 11, 146;
die kinder kamen einen augenblick zu uns, aber sie rasten gleich wieder davon; eine schar buben raste aus dem thore der schule hervor; die eltern sollten ihre kinder nicht so herum rasen lassen.
b)
mit sächlichem subjecte, wo aber die bedeutung mehr in mischung mit anderen vorhergenannten auftritt.
α)
von den heftigen bewegungen der leidenschaften, krankheiten in uns, mit anklang an die bedeutung 2 oben: die gluth der liebe rast durch meine sinne. Klinger 2, 386; die wilde gluth der liebe rast in meinem blute. 394; die pest oder ein böses fieber rasen in einem gesunden vollsaftigen körper, den sie anfallen, schneller und heftiger. Göthe 18, 217; das alles raste zusammen in meinem durch liebe und leidenschaft, wein und tanz aufgeregten blute. 26, 24;
liebeswuth,
weinesgluth,
rast im blick,
sträubt das haar!
2, 27;
dann fängts auf einmal an zu rasen,
ein mächtger geist schnaubt aus der nasen,
es wildzt die innere natur.
92;
doch nie gelängs, die innre gluth zu dämpfen;
schon rasts und reiszts in meiner brust gewaltsam.
3, 29.
β)
von dingen auszer uns, strom, sturm, feuer, geschossen u. s. w. und ihrem dahinstürmen, übergang in die bedeutung 3, f liegt nahe, und die beispiele können nicht immer scharf gesondert werden: ein wilder sturm raste. Klinger 5, 152; indesz der tyrann der musik, die orgel, wie ein orkan darein (in den choral des volks) rast und tiefe fluhten wälzt. Heinse Ardingh. 1, 56; das dampfrosz schnaubte und raste über die weite thallandschaft, wie ein pferd aus Beelzebubs marstall. Freytag soll und haben 1, 383;
lasset meer und wellen rasen,
wellen gehn zum himmel nächst.
Spee trutzn. 76, 15;
raset und brauset ihr heftigen winde.
Picander 3, 138;
es rast das schnelle mordmetall,
und reihen krieger trifft der fall.
Lichtwer schriften 277;
der donner rast in seinem arm.
Schiller hist.-krit. ausg. 1, 347;
sein ehrgeiz war ein mild erwärmend feuer,
noch nicht die flamme, die verzehrend rast.
Wallensteins tod 3, 3;
rast nicht die welt in allen strömen fort,
und mich soll ein versprechen halten?
Göthe 12, 87;
wie rast die windsbraut durch die luft!
206.
6)
rasen, in bezug auf die tollheit der wölfe und hunde, ist wenig gebräuchlich: item in dem selven jair .. was ein plage ind ein raserie umbtrint Coellen (um Köln herum) 4 milen van rasen wolven, die honde, perde, verken, ganse ind ouch etzliche luide ind ander beesten bissen, die ouch rasen wurden. d. städtechron. 14, 906, 17; der hund raset, canis rabiosus est. Steinbach 2, 227; ein rasender hund, canis rabidus, rabiosus Frisch 2, 87ᵇ; niederl. rasen als de honden, rabire Kilian.
7)
das part. präs. rasend, substantivisch, adjectivisch, adverbial.
a)
subst. ein rasender: der rasende, furens, furiosus, insanus, vesanus, delirus, lymphatus, phreneticus, die rasende, foemina furiosa, fatua, furens, improvida Stieler 1523; warumb ist dieser rasender zu dir komen? 2 kön. 9, 11; sie haben als rasende einen anfall gethan, velut vecordes illati sunt. Steinbach 2, 217; schon glaubte der rasende sein ziel getroffen zu haben. Lessing 1, 166; der reisende. träumt ihr, oder raset ihr? Christ. keins von beiden. denn für einen rasenden wäre meine rede zu klug, und für einen träumenden zu toll. 334;
du hieltest dieses wort dem rasenden zu gute.
Picander 1, 215;
der ist ein rasender, der nicht das glück
festhält in unauflöslicher umarmung,
wenn es ein gott in seine hand gegeben.
Schiller Maria Stuart 3, 6;
Sauvage führte
den streich, der rasende.
3, 8;
zu welchem rasenden macht man den herzog!
Piccolomini 5, 1;
hat sich dir was im kopf verschoben?
dich kleidets, wie ein rasender zu toben!
Göthe 12, 144;
neutr. das rasende, von der that eines rasenden:
wer hat
das rasende gethan?
Schiller Maria Stuart 3, 8.
b)
adjectivisch: rasend, furiosus, rasend in einer krankheit, phreneticus. Frisch 2, 87ᵇ; rasender weise, furiose. ebenda; ein rasender mensch, homo furiosus. Steinbach 2, 217; die rasenden begierden, cupiditates furiosae. ebenda; rasender zorn, ira furibunda. ebenda; wir haben hie einen rasenden unsinnigen narren. Luther 8, 239ᵃ; der rasende nordwind hatte seine stärke in einer stürmischen nacht an einer erhabenen eiche bewiesen. Lessing 1, 159; so entstanden die beiliegenden blätter und ein lied der drei rasenden sänger. Arnim Hollins liebeleben 71 Minor;
das tolle zeug, die rasenden gebärden,
der abgeschmackteste betrug,
sind mir bekannt, verhaszt genug.
Göthe 12, 129;
diesen (mast) umschlang ich und trieb, von dem rasenden sturme geschleudert.
Odyss. 14, 313;
rasendes zeug, unsinniges. Adelung; glauben sie solch rasendes zeug nicht! Lessing 1, 240; du würdest .. aus lust und liebe in den flammenden abgrund steigen, in den ein rasendes gesetz die indischen frauen zwingt. Schlegel Lucinde s. 9; an blosz verstärkende bedeutung anstreifend, aber immer auf grund der vorstellung des stürmens: rasendes glück hat er. Klinger 1, 154; mit rasender eile fliehen; mit rasender schnelligkeit fuhren die gedanken durch sein haupt. Freytag soll u. haben 2, 390; in trunkenem muth treibt er seine pferde zum rasenden wettlauf mit andern gespannen. 115;
rette dich aus dem getümmel der stadt, und dem rasenden lärme,
welcher die rauschenden freuden in stolzen mauern begleitet!
Zachariä tagesz. s. 73;
wo bin ich? rasender betrug — ich habe
das rechte kabinet verfehlt.
Schiller don Carlos 2, 8.
c)
adverbial: nach etwas rasend trachten, rabide aliquid appetere. Steinbach 2, 217; den feind rasend angreifen, impetum in hostem rabiose facere. ebenda; und das mädchen lieb ich noch immer so rasend, wie jemals. Göthe 20, 226; eben auch nur verstärkend stehend: rasend viele leute; er hat einen rasend groszen zulauf; rasend, als adv. gerne für sehr gebraucht Schm. 2, 137 Fromm.; er hat rasend viel geld. Campe.
8)
der infinitiv substantivisch: der herr wird dich schlahen mit wahnsin, blindheit und rasen des herzen. 5 Mos. 28, 28; das rasen in einer krankheit, phrenesis Frisch 2, 87ᵇ; das ist das göttliche und heilige rasen in der ode. (Schönaich) ragout à la mode oder das neolog. wörterb. erste zugabe (1755) 13; doch ist in der dichtkunst allezeit eine sorgfalt, und mitten im poetischen rasen eine bescheidenheit nöhtig. Drollinger 200;
der liebt nicht, der mich nur aus rasen lieben kann!
A. Gryphius (1698) 1, 211 (mit bezug auf einen genossenen liebestrank);
die in Pindars glut geblasen,
und der seelen edles rasen
in verwegnen bildern malt.
auch ich, von ihr (der einfalt) verführt, vom hochmuth aufgeblasen,
hielt für die wahrheit selbst ein philosophisch rasen.
Lessing 1, 188;
das schädliche rasen, furor perniciosus. Steinbach 2, 217; vor rasen blind sein, furore occaecari. ebenda;
da kömmt der bluthund her; dampf geht aus seiner nasen,
das herz, das mörderloch, quillt ein vergifftes rasen.
Picander 1, 214;
sie zürnte fast zum rasen,
dasz der vermeszne, der mit profanem gesicht
in ihren reizen gewühlt, noch odem in seiner nasen
behalten sollte.
Wieland 5, 91 (n. Amadis 15, 11);
doch willkommen sei des fluches rasen,
denn so liebt er mich, wie er mich schmähte.
Göthe 40, 399;
das rasen der windsbraut, des sturmes, das rasen des stromes, des feuers;
nicht wie ein strohm, der aufgeblasen
mit murren, brausen, stürmen, rasen
durch die erschreckten ufer fährt.
Picander 3, 29;
doch plötzlich kehrt ihr (der winde) sanftes blasen
sich in ein ungezähmtes rasen.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 1 (1886), Bd. VIII (1893), Sp. 131, Z. 78.

verrasen, verb.

verrasen, verb.
austollen, austoben, vertoben: unter des rufft er grell und hell: hui teuffel, ich musz verrasen, hui Astarot, Belial, ich vertob, halten mich, hui teuffel halten. Garg. 451 (1590); und hab ich nun verraset und die laster der jugend alle verlassen. Harsdörffer lust- u. lehrr. geschichten 1, 86; bey dem die rasende hitz der jugend gemäsziget, der verraset hab. Moscherosch de politico 101; wenn sie verrast und die hörner abgeworfen haben, werden sie schon von sich selbsten geschmeidig. Schoch stud.-leben A; und hat man ehe erfahren, dasz diejenigen, so die hörner in der jugend zwar wol abgestoszen, hernacher, wenn sie genugsam verrahsen, die besten worden sind ... durch toben entstellen: als der cylinder-spiegel, der die langen jahre des alters auf das junge gesicht gräbt und moos und schutt der zeit darauf schüttet, ihm sein bild verraset entgegen warf, sagt' er ... J. Paul 25, 153.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 6 (1895), Bd. XII,I (1956), Sp. 984, Z. 47.

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Zitationshilfe
„verrasen“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/verrasen>.

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