Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

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verschreien, verb.

verschreien, verb.,
mhd. verschrîen, stark und schwach flektierend (mhd. wb. 2, 2, 215ᵃ. Lexer mhd. handwb. 3, 219. nachtr. 393), und schwaches verschreien (mhd. wb. 2, 2, 216ᵃ. Lexer a. a. o. 3, 218); über die formen vgl. oben theil 9, sp. 1709 ff. Maaler 430ᵃ ᵇ verzeichnet zu verschreyen die partic. perf. verschreyt und verschrüwen. Hulsius dict. (1616) 354ᵇ hat verschreyen, part. verschrien, Kramer dict. (1702) 2, 669ᵇ verschreyen, verschrien, verschreyet, Steinbach 2, 506 verzeichnet nur noch das starke part. verschrieen. schwaches part. aus der lebenden sprache bezeugt. Schmeller 2, 592. stark: verschroue Seiler 112ᵇ; faschriarn Castelli 125; in der neueren schriftsprache ist das schwache part. natürlich nur selten belegt; Wieland braucht es: Tarent, ehmals die ansehnlichste stadt in Groszgriechenland, war schon in den zeiten ihres gröszten flors wegen der weichlichkeit ihrer bewohner verschreyt. Horazens episteln (1801) 1, 164;
viel leichter prüfte dort der ersten schiffer heer,
in heil'ger fichten bauch, das arg verschreyte meer.
Wieland 40, 93 (natur d. dinge 2, 168).
Schmid 479 stellt in der schwäbischen ausspraehe den unterschied zwischen verschreien, überlaut schreien = mhd. verschrîen und verschraien, verleumden = mhd. verschreien fest; diese scheidung in der bedeutung geht gewisz in alte zeit zurück. das wort ist im 18. jahrh. im sinne von verleumden, schmähen, verwerfen, verurtheilen noch ganz geläufig; so verzeichnen es Adelung und Campe; eine andere anwendung kennen sie aus dem brem. wb.; im 19. jahrh. wird der gebrauch des wortes im sinne von verleumden stark eingeschränkt, es ist uns jetzt auch im part. perf. ziemlich fremd geworden (etwa noch: übel verschrieen; verschrieen als geizhals); ganz gewöhnlich ist uns dagegen noch sich verschreien, sich überschreien, sich überanstrengen beim überlauten singen oder rufen.
1)
im übermasz, aus allen kräften schreien, mundartlich: was das kind verschreien kann; ich kann es nicht verschreien. Schmid 479 (letzteres wie erschreien); in allgemeiner anwendung, durch überlautes singen oder rufen verderben: die stimme verschreien, heiser machen. er hat sich ganz verschrieen, seine stimme ganz verdorben; auch: er ist ganz verschrieen. eine verschrieene stimme, ein verschrieener tenor. vgl. dän. forskrige sig; vom klagen und jammern verdorbene stimme:
er vant ir stimme heise,
verschrît durch ir freise.
Wolfram Parz. 505, 20.
bis zur ermattung schreien:
in den wäldern will ich irren
mit verwaisten tauben girren,
bis die kräfte sich verschreyen.
Günther bei Steinbach 2, 506;
das leben verschreien, schreiend (jammernd) hinbringen:
so muszt du dein leben, verriegelt allein,
tief unter dem turm im gewölbe verschrei'n.
Bürger ged. 197 Sauer;
du darfst nicht, oder ich verschrey mein leben (anklagend). Klinger theater 4, 208 (1787).
2)
verschreyen, -schrien, preconare. Diefenbach gl. 452ᶜ; vgl verschreier, verschreiung und verrufen, öffentlich ausrufen oben sp. 1026; bei der mordklage: die verwandten des getödteten, d. h. alle zu wergeld berechtigten, traten streitgerüstet auf. dreimaliges wehgeschrei erhebend zogen sie dreimal die schwerter aus; das hiesz den mörder verschrein. J. Grimm rechtsalt. 878; 'besonders aber nennen wir verschrijen, das blutgericht über den körper eines ermordeten halten, wobey das wehe über den entflüchteten thäter öffentlich ausgerufen, und derselbe vogelfrey erkläret wird. wenn dergleichen geschehen soll, so sagen wir von dem entleibeten: he schall verschrijet werden'. brem. wb. 4, 696; einer der etwas böses gethan hat, wird verschrijet, eine sache, damit sich der eigenthümer melde; ene brake verschrijen, 'bey dem durchbruch eines deiches öffentlich auf dem deiche das so genannte spadenrecht hegen, wobey der eigener des schadhaften deichpfandes vorgeladen wird'. ebenda; eine müntz verschreyen, sie durch öffentliche ausrufe für ungültig erklären. Kramer dict. (1702) 2, 669ᵇ; wie richten:
sus lieʒ er sie (die christen) verschrîen.
passional 668, 59 Köpke;
so gar verêhtet,
verschriuwen noch versmêhtet.
H. v. Langenstein Martina 36, c, 74.
3)
unter der voraussetzung, dasz in schreien die vorstellung des öffentlichen ausrufens zum ausdruck kommt, erklärt sich die wendung sich verschreien, sich im schreien irren, verfehlen: der wächter hat sich verschrien: anstatt neun uhr hat er zehen ausgeschrien. Kramer a. a. o.
4)
verschreien, verhexen (vgl. beschreien th. 1, sp. 1596); man hat das kind verschrien, questo bambino è stato affascinato. Kramer a. a. o. vgl. Schöpf 648; fürs verschreyen oder bezaubern (der pferde). Hohberg adelich. landleben 2, 236 (1682); man darf ein kleines kind nicht wegen seiner schönheit loben: daͦs kind is faschriarn woarn, bleibt zurück, weil man es gelobt hat. Castelli 125. 'verschrei die gute stunde nicht'! rief Sanna und hielt ihm die hand auf den mund. Rosegger Höllbart 85 (Leipzig, Max Hesse).
5)
von 2 ausgehend, durch rede weit und breit bekannt machen; im part. perf.: verschreyte krieg, von denen man allenthalben sagt, vulgata bella per orbem fama; weyt verschrüwen und veruͤmpt, nobilitatus. Maaler 430ᵃ.
6)
gewöhnlich in verschlimmertem sinne in übeln ruf bringen; die entstehende schlechte meinung kann berechtigt oder unberechtigt sein; die vorstellung der in der beschränktheit irrenden, lieblosen, feindseligen, erbarmungslosen, gehässigen nachrede kann dabei ganz schwinden; das besonders häufig gebrauchte part. perf. wird sehr oft in dem sinne angewandt, dasz die üble nachrede berechtigt ist (wie verrufen); aber auch ohne diese vorstellung, mehr mit betonung der übelwollenden nachrede; 'verschrien ist milder als berüchtiget, und unterscheidet sich dadurch, dasz es nicht immer den begriff der rechtmäszigkeit des nachtheiligen urtheiles in sich schlieszt, was den ruf von einem dinge fället'. Campe; hin und wieder tritt die vorstellung des verdammens mehr zurück vor dem gedanken, dasz etwas der breiten öffentlichkeit preisgegeben ist (mehr nach 5), z. b.: ein offenlicher oder verschreyter eebruch. Maaler 430². verschreien, verschrieen kann auch, wie einige der folgenden belege zeigen, auszerhalb des sittlichen und gesellschaftlichen begriffskreises anwendung finden, verschreien im sinne von tadeln, schwächen, verwerfen, verurteilen, mäkeln an etwas gebraucht werden (man beachte die belege aus dem 18. jahrh.); oder es wird ausgedrückt, dasz etwas in üblem ruf, trauriger erinnerung steht (z. b. ein verschreyt jar von wägen der grossen pestilentz. Maaler 430ᵃ). einen verschreyen das man seinen worten nit mer glaubt, einen als unglaubwirdig verschreyt machen; verschreyt, ubel verlümbdet; er ist darvon verschreyt oder verlümbdet; mit allen lastern und schanden befleckt und verschreyt; verschreyt machen; verschreyt sein, wenn yedermann das maul mit einem wäscht; dann schlimmer: verschreyt sein, sein guͦt lob und achtung verlieren; als ein boszhafftiger oder böszwilliger verschreyt werden. Maaler a. a. o.; von grosser schand und laster wägen weyt verschrüwen und bekannt; von yedermann verschrüwen, dem alle wält übel redt, von yedermann geschmächt und gescholten. 430ᵇ; verschreyen, ubels einem nachreden. Hulsius dict. (1616) 354ᵇ; verschrien, calomnie. ebenda; einen überall verschreyen, ... infamare uno per tutto. Kramer dict. (1702) 2, 669ᵇ; verschreit sein, machen. Schmeller 2, 592; er hep-mi überal verschroue. Seiler 112ᵃ; vgl. Schmid 479. Hupel 249; so ich verschreyet, sam ich der jungfrowen Mariä jr eer begere zu schmäleren, sag ich also. Zwingli 2, 211; seiner geschwinden und ungetrewen pratiken halber so gar bekannt und verschrait, das im niemands was guets getrawete. Zimm. chron.² 3, 608, 20; du strolch, wilstu mein heerberg verschreyen (in üblen ruf bringen)? Simpl. 2, 291, 27; kompt mir der jenige meerräuber zu muth, welcher mit einem eintzigen schifflein raubete, und derohalben verschreyt war. Schuppius schriften 749; es geht mir recht nahe, sprach er (der wolf), dasz ich unter euch schäfern als das grausamste, gewissenloseste thier verschrieen bin. Lessing³ 1, 225; es ist doch so gar bequem, unter der eingeschränktheit und geschmacklosigkeit des schülers den scharfen blick des meisters zu verschreien. ² 11, 467; den liebreichen einfall, die fabeln des Lestrange, weil er sie nicht so grade zu für elend ausgeben wollte, als gefährlich zu verschreyen. ³7, 74; die wohltätigen einflüsse zweyer so verschriener leidenschaften. Wieland 2, 233 (Agathon 9, 5); unsre neuern schriftsteller (sie wissen welche mürrischen wizlinge ich meine) verschreien das menschliche geschlecht. sie haben, gleich missethätern die im kerker saszen, nur rudersklaven und andre elende gesehn. Hermes Sophiens reise 1, 37; einen verschreien über etwas: so erbeutet er von unsern censoren mit hohem augenbran, dasz sie ihn über drei miszrathene versuche verschreien. Herder 2, 108 Suphan; weil wir ein gemeinschaftliches verschrieenes Böotien haben. 1, 327; indem ihm nicht unbekant war, dasz die Milesier in geselschaft des Hermokrates hauptsächlich in der absicht dahin gegangen, ihn zu verschreien. Thucydides übers. von Heilman 1130 (πορευομένους επὶ καταβοῇ τῇ αὐτοῦ 8, 85); so sehr es seit einiger zeit mode geworden ist, das dichterische verdienst der Franzosen zu verschreyen (herabzusetzen). Gotter ged. 1, viii (1787); entartete sklaven, die unter dem klang ihrer ketten die freiheit verschreien. Schiller 4, 47; es würde unbillig scheinen, den letzteren, der seine paradoxe behauptung mit der religionsabsicht zu vereinigen weisz, zu verschreien. Kant 2, 561; ohne darüber für einen unruhigen und gefährlichen bürger verschrieen zu werden. 565; Epikur's von anderen so genanntes und darum verschrieenes wollustprincip. 10, 255; da unsere verschämten kunstrichter jene alten kraftvollen, der natur der sache angemessenen ausdrücke fast alle verschreyen. Thümmel reise 4, 184 (1794); der mann von genie, der einen allgemeinen irrthum verschreit, oder einer groszen wahrheit eingang verschafft. Göthe 45, 13 Weim. ausg. (Rameaus neffe); wenn ich auch unter dem verhaszten namen einer demokratin ververschrieen werden sollte. 18, 46 (die aufger. 3, 1); unter allen übeln für erziehung und für kinder, wogegen das verschrieene buchstabieren und wixen golden ist. J. Paul uns. loge 1, 36 (bd. 1); (ich) werde überall, wo ich hinkomme, mit der zeit wie ein toller hund verschrieen, gemieden und weggehetzt. Heyse kinder d. welt¹³ 1, 44; (er) war in der altgesinnten stadt als ein leidenschaftlicher liberaler verschrieen. Keller 1, 162 (1899).
zuht unverschrît
mit vuoge wît.
Frauenlob 15, 15;
mich vrâgte ein wîser leie,
welch dinc ûf lebendiger truht
dâ zaller best gevalle.
dô jach ich wider: an vrouwen zuht,
und an den mannen triuwe ganz,
swer mâʒe kan an allen dingen geben.
der keineʒ ich verschreie,
sprach er.
262, 7;
so hörte man aus thälern, büschen, grotten
des menschenfreundes himmlisches geschenk verschreyn.
Ramler fabellese 3, 174 (1790);
indessen über sie (die tugend) die Hippiasse scherzen,
und sie als hirngespinst verschreyn.
Gotter ged. 1, 384 (1787);
er lächelt, wann in kleinen geistern
der unfug tobt, die welt zu meistern,
und ihre mängel zu verschreyn.
462;
du magst die kunst
der wir uns weihen,
mit spöttereien
als blauen dunst
nach lust verschreien.
Göckingk ged. 2, 89 (1781);
am verhasztesten waren Achilleus ihm und Odysseus.
diese verschrie er gar oft (τὼ γὰρ νεικείεσκε).
Bürger 197ᵃ.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 7 (1905), Bd. XII,I (1956), Sp. 1161, Z. 12.

verschreien, verb.

verschreien, verb.
versengen (mundartlich): das riecht verschreiet, als wäre es versengt. Hupel 249; nd. hei het sek verschreiet; stark: hei het sek det hâr verschrêen. Schambach 266ᵃ; verschraien, verschraid. Woeste 295ᵃ; ferschrôjen, versengen, verbrennen, verwüsten, verderben, verreiszen. 't' is al ferhä̂rd un ferschrôid. ten Doornkaat Koolman 1, 462ᵃ; verschräuen, leicht verbrennen, z. b. die haut. Mi 102ᵇ; freier: enem de ogen verschrögen, einem die augen verblenden. brem. wb. nachtr. 291; hierher gehören die gleiches bedeutenden verben verschreigeln, verschreilen, verschrelen. verschregen, versengen, ausdörren, anbrennen. Frischbier 2, 441ᵃ; ich hab mir de hand verschrît, verbrannt; de kartoffle sein rein verschrît, gänzlich verdorrt. ebenda. verschriet, verbrannt, durch sonnenhitze oder feuer. Schemionek 43. vgl. mnd. vorschroien bei Schiller-Lübben 5, 438ᵃ; nld. schroeien, brennen, sengen; die herkunft des wortes ist dunkel.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 7 (1905), Bd. XII,I (1956), Sp. 1163, Z. 65.

verschreuen, verb.

verschreuen, verb.
versengen, verbrennen, s. zweites verschreien.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 7 (1905), Bd. XII,I (1956), Sp. 1164, Z. 51.

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Zitationshilfe
„verschreuen“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/verschreuen>.

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