Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

verschleiszen, verb.

verschleiszen, verb.
sich aufreiben, abnützen, mhd. verslîʒen, ahd. farslîʒan Graff 6, 816, ags. forslîtan, mnd. vorslîten, alts. farslîtan. verschleiszen ist eine verstärkung des einfachen schleiszen, spalten, und vom sinnlichen übertragen, verderben, vernichten. eine zweite bedeutung, die sich weniger im hd. als im nd. findet, ist die 'etwas im kleinverkauf ausbringen', also gleichsam eine gröszere masse zerspalten und den theil in den handel bringen. die flexion ist stark wie beim einfachen zeitwort: verschleisze, verschlisz, verschlissen; in gewissen formen ist vermischung mit schlieszen eingetreten, vgl. theil 9, 616. wir finden manchmal (ich) verschliesze in einer bedeutung, wo wir auch verschleisze setzen könnten, ebenso infin. verschlieszen. weiteres bei verschlieszen. eine andere verwirrung mit verschlieszen zeigt sich in der nicht seltenen form verschleust für verschleiszt.
1)
intransitiv, zu grunde gehen, verderben: widerumb bringen etlich gros gut zusamen und es verschleist doch unter iren henden weg, das sie kaum sich erhalten. Luther 2, 391; alles fleisch verschleist wie ein kleidt, denn es ist der alte bund, du must sterben. Sir. 14, 18; sammet und seide zureiszt und verschleuszt endlich. Mathesius Sar. 49; sie werden verwandelt, du wirst aber bleiben und wie ein kleid werden sie alle verschlieszen. Luther 1, 35ᵇ; (Christus) hat sy ouch gespyst getränkt und jre kleider nit verschlyszen lassen. Zwingli 1, 193;
sein bein warn jm vor alter gspannen,
sein rücken schwach, sein zän verschlissen (die eines jagdhundes).
B. Waldis Esop 1, 22, 11;
der auserwehlten sitz verschleiszt für meines gleichen.
Canitz 93;
von kleidern:
sie (die werke der schöpfung) werden allesammt durch letzten sturm zerreiszen,
und wie ein alt gewand und böses kleid verschleiszen,
Jehovah aber du bleibst immer wie du bist.
dein antlitz predigt uns von nichts als klageliedern,
der redner schwartze tracht erklärt auf deinen gliedern
den spruch, dasz unser leib wie ein gewand verschleiszt.
ich sehe meinen leib als ein gewand verschleiszen.
Canitz 89.
von der zeit: alles zeitliche verschleiszet wie ein kleid. Butschky Patm. 78; meine tage, nach dem gemeinen menschlichen losz, sind nahe verschlissen. J. Grimm wörterb. vorr. I, lxviii;
die zeit, die itzt verschleist, kan sich an sich erholen,
das laub schlägt wieder aus; die sterbenden violen
bekommen ihren geist.
Fleming 125;
so lieb — so nützlich ist die sommerzeit verschlissen,
in welcher wir der lehr' und tugend uns beflissen.
Rist Parn. 139;
part. praet.: und daher kompt, dasz man zu Rom alle jar auff den karfreitag die h. Veronica (das ist ein stücklein alts verschlissen leinwats, darauf man saget, das des herren antlitz gemalet stande) offentlich zeiget. Fischart bienenk. 142ᵇ; wenn sich zwei .. evangelisten widersprechen, so bin ich .. sehr geneigt .. den widerspruch lieber zuzugeben, als ihren zwar verschlissenen, aber immer noch ehrwürdigen purpur mit meinen abstechenden lappen zu flicken. Lessing 10, 100; liebe, was ist liebe? dummes, verschlissenes zeug. Gutzkow ritter v. geist 8, 7; ein junger mann trat herein in einen grauen verschlissenen mantel gehüllt. 7, 59; es schien ein ehemaliger kriegsoberst zu sein, da er einen langen grauen schnurrbart trug .. und ein verschlissenes bändchen im knopfloch. Keller sinnged. 156;
verwelckt, verweset und verschlissen (rock).
Brockes 4, 12;
nun gut, das will ich auch nicht ganz verreden,
um meines mantels willen nicht. sobald
der ganz und gar verschlissen, weder stich
noch fetze länger halten will, komm ich
und borge mir bei euch zu einem neuen
tuch oder geld.
Lessing 2, 247 (Nathan 2, 5);
substantivisch: denn wie bei uns kein reicher und kein fürst so prachtvoll in seiner wohnung eingerichtet ist, dasz nicht irgendwo etwas fehlerhaftes, unbequemes, verschlissenes darin sich einfände .. Rumohr 3 reisen nach Italien 133; bildlich: das eine (buch) müszte an einem meisterwerke nichts als die mängel rügen, jede falsche mitteltinte, falte, linie bezeichnen und es ohne scheu vorrücken, wenn ein winkel des rahmens um das bild kein rechter wäre, oder die vergoldung verschlissen. J. Paul vorsch. z. ästh. 3, 40.
2)
transitiv, zu grunde richten, zu ende bringen, deterere verschleiszen Calepin. 1570; in apparando consumunt diem, sie verschleiszen den tag in fleiszigem zuͦrüsten. Dasypodius 171ᵇ; das eysen durch langen brauch verschleiszen und verzeeren, ferrum usu conterere. Maaler 429ᵃ; den summer etwan an einem ort verschleiszen, aestatem consumere in aliquo loco. 429ᵇ; die zeit verschleiszen, terere tempus; sein alter eerlich verschleiszen, agere honoratam senectutem; sein läben mit studieren und lernen verschleiszen, aetatem consumere in studio. ebenda; aygentlich das er on witz und weinsüchtig sein leben hinbringet und verschleiszt. Franck Erasmus lob d. thorh. 10; allzuviel zeit mit studieren und leren verschleiszen, ist etlicher maszen ein scheinbahrer müsziggang. Butschky Patm. 626; ich lasse die aber fahren und wil die zeit mit nöthigerem verschleiszen. Thurneisser beschreibung influent. wirkungen aller erdgewächse (1578) 81; welche nothwendigkeit aber leget dir auf, die zeit dermaszen absonderlich zu verschleiszen und in solcher einsamkeit herum zu wandern? Opitz 2, 249; ihre gröszeste ergötzung musz seyn, sich mit sorg und bekümmernusz zu grämen, und ihr höchstes contentament, wann sie ihr leben mit schwerer saurer mühe und arbeit verschleiszen, sich bemühen um ein wenig rothe erde, die sie doch nicht mitnehmen können, die hölle zu erarnen. Simpl. 2, 141, 21 Kurz. part. und participialconstructionen: und wie du siehst, wie schlecht min anfang, gfärlich min läben verschlissen ist worden, das ich denoch zu ziemlichem glück und eeren bin kummen. Th. Platter 111; der leib ist müde, der verstand verwirrt, die unschuld ist hin, meine beste jugend verschlissen, die edle zeit verlohren. Simpl. 2, 109, 12 Kurz; bisz auf diese zeit seiest du ein kruͦg gewesen, aber fürbasz soltu von diesem wasser verschlissen sein und verflöszet werden. Steinhöwel (1555) 90ᵇ;
verschleisz die liebe zeit
mit angenähmer lust und leichter fröligkeit.
wir sind bereit darzu, in was wir nur vermügen,
dich mit auch gleicher gunst und liebe zu vergnügen.
der angenähme tag ward ganz in lust verschlissen,
bey gutem trank und kost.
68;
verschleiszt die zeit mit karten
dieweil ein andrer sich des vaterlandes wehrt.
134;
Sylvius und Koridon,
Koridon und Astyon
sprungen auf mit lautem schreyen,
lange lebe Tityrus!
und so ward mit lust und küssen
tag und halbe nacht verschlissen.
400;
ligend ihre zeit verschleiszen.
Spee trutzn. 288;
ihr herr N. N. habt so treflich wol verschlissen
den frühling eurer zeit, dasz Hamburg sich beflissen ..
Rist Parn. 66.
jemand verschleiszen: damit sie den gemeinen mann abmergeln und in stäten heerzügen verschleiszen wolten ... Livius deutsch (Mainz 1557) 52.
3)
reflexiv: schweret ein teil falsch, so hat es sein urteil ... sol jnen doch nicht gelingen, das alles, so sie damit gewinnen, sich unter den henden verschleisze und nimer frölich genossen werde. Luther 4, 392ᵇ; des menschen leib verschleiszt sich wie ein kleid, das man täglich trägt. Lehmann flor. 12; da mein gold sich in so viele kleine kanäle jetzt verschleuszt, findet selten sich ein strom zusammen, lastbare schiffe der üppigkeit emporzutragen. Fr. Müller 2, 18;
seine schönhait zerrinnt unt sich verschleist.
Melissus psalm R 1ᵇ;
dieweil gleich einem kleid und täglichem gewand,
so nach und nach verschleuszet, sie veralten.
Weckherlin 212 (ps. 102, 30);
wenn, edler, unser geist auch mit dem leibe stürbe
und, wenn er sich verschleist, die seele mit verdürbe,
so wer es zweymal recht, dasz ihr und wer euch ehrt
als den auch billich kränkt, was leid euch widerfährt
von dieser bösen post, euch zweymahl mehr betrübtet.
Fleming 126.
4)
verschleiszen in der bedeutung 'in kleinverkauf bringen', mhd. nicht nachgewiesen, mnd. Schiller-Lübben 5, 449, nhd. die waaren verschleiszen, vendere merces Frisch 2, 136ᶜ, 'noch sehr häufig in Oberdeutschland' Adelung; seine wahre zu verschleiszen suchen ebenda; verschleiszen, ablassen an kaufende, anbringen Schm.² 2, 535.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 6 (1895), Bd. XII,I (1956), Sp. 1096, Z. 69.

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Zitationshilfe
„verschleiszen“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/verschleiszen>.

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