Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

zahllos, adj.

zahllos, adj.,
ohne zahl, unzählbar Campe, anscheinend erst durch den einflusz Klopstocks beliebt geworden, der das klangvolle wort gern verwendet. vgl. zahlenlos und ohne zahl unter zahl 3. zunächst von wirklich unzählbarem, dann in hyperbolischer allgemeinerer anwendung, doch stets mit dem begriff der unübersehbaren menge, auch compariert:
dasz noch zahlloser die schar sei
1)
neben collectivischen ausdrücken wie menge Campe, schar, heer, schwarm:
sey unbekümmert, wenn auch ihr zahllos heer stets wüchs'
Klopstock oden 1 (1889), 17;
da kam odem in sie, sie wurden lebend, und standen
aufgerichtet, ein zahllos heer!
werke 5, 76 (Mess. 11, 1131);
dann misch' ich nicht mehr die heissere stimme
in den preisgesang der zahllosen schaar
am kristallnen meere
Schubart ged. 1 (1825), 3;
als Jupiter die dinge schuf,
der thiere zahllos heer auf zweien und auf vieren
Arndt 3, 42;
die lufft ist ein auflösungsmittel für eine zahllose menge von dingen Lichtenberg briefe 2 (1902), 82; jede neuerlangte potenz ist die wurzel zu einer zahllosen reihe neuer potenzen Herder 18, 298; das interesse dieser blätter wird durch eine zahllose menge mannigfaltiger ... anzeigen erhöhet Archenholz England u. Italien 1 (1785), 58; hoch über mir am himmel brachen alle lichter hervor. tausend und tausend in zahlloser menge Fr. Müller 1, 36; unter dem zahllosen heer deutscher (schauspieler-) truppen ist die Mannheimer bühne eine der wenigen Schiller 3, 531; jedem groszen originalkünstler pflegt ... ein zahlloser schwarm der armseligsten kopisten zu folgen Fr. Schlegel pros. jugendschr. 1, 91; Werner erfand durch die aufstellung der äuszerlichen kennzeichen der fossilien die erste allgemein verständliche sprache für das zahllose heer der vom dunklen schoosze der erde umschlossenen naturkörper Ritter erdkunde 1 (1822), 34; und im sommer des jahres 1812 zog er aus mit einem zahllosen zeuge von reisigen und fussknechten Arndt schriften f. u. an s. l. Deutschen 1, 239; die zahllose menge von sternen, welche die milchstrasze bilden, geben eine sich selbst entzündende (leuchtende) masse her Humboldt kosmos 1 (1845), 109; eine zahllose menge von mohnblumen oder klatschrosen hatte sich darauf angesiedelt Keller 4, 111; die ganze dort (im lager) versammelte zahllose menschenmasse (wurde) getödtet oder gefangen Mommsen röm. geschichte (1881) 35. bei pluralischer verwendung solcher ausdrücke kann es zweifelhaft sein, ob das wort für die einzelnen bestandtheile des collectivbegriffs gelten soll oder für die menge der collectivbegriffe selbst (vgl. 2):
zahllosen schaaren seliger
wolltest du der unerschöpfliche quell
ihrer seligkeit seyn!
Klopstock oden 1 (1889), 143;
mein fürbitter, lasz mich, lasz zahllose schaaren erlöster,
meine brüder, den tod der gerechten sterben!
werke 5, 135 (Mess. 12, 502);
schön war das ebne feld,
erwünscht ihren zahllosen turmen
Ayrenhoff 1, 263, 4;
zertritt mit schaaren, zahllos, deines hohns
ursacher
Tieck 1 (1828), 216;
wie prächtige linden, in deren walde von gerüchen und blüthen zahllose schwärme honig suchten und fanden Herder 23, 14; er nahm ihn (Bocchus den Jugurtha) nicht blosz bei sich auf, sondern rückte auch, mit den eigenen zahllosen reiterschaaren Jugurthas haufen vereinigend, in die gegend von Cirta, wo Metellus sich im winterquartier befand Mommsen röm. gesch. 2 (1881), 150.
2)
neben pluralisch gebrauchten anderen ausdrücken, auch hier nicht auf sinnliche anwendung beschränkt, die doch naturgemäsz im vordergrunde bleibt, häufiger von dem, was neben einander wahrgenommen oder vorgestellt wird als von gleichartigem, was auf einander folgt:
wie herlich sind, gott, vor mir deine gedanken!
wie zahllos sind sie!
Klopstock oden 1 (1889), 141;
zahllos sind, die den herrn anbeten!
werke 6, 241 (Mess. 20);
ernsthaft schauet auf uns der majestätische himmel
mit seinen zahllosen welten herab
Giseke poet. w. 118;
zahllose streiter, gedungen zum morden,
heben die nervigen arme voll wuth
Schubart ged. 3 (1825), 10;
er (der mensch) flieget auf gen himmel
auch ohne schwingen, ordnet das getümmel
der welten droben, miszt die weite ferne
zahlloser sterne
Herder 27, 339;
du bist es schöpfer, der durch einen wink
zahllose welten schuf
Hölty 119, 2;
erde, du mutter zahlloser kinder und amme!
sey mir gegrüsst! sey mir gesegnet im feiergesange
Stolberg 1 (1827), 201;
geist gottes, der hochherlicher engel chor
aufstürmt am weltthron, und, durch harmonische
sternkreis' herab, zahlloser geisterordnungen
jubel mit kraft beflügelt
Voss 3 (1802), 75;
und zahllose kinder
besingen den winter
Arnim 1, 171;
es hat das leben mich wie eine schlange
mit gliedern, zahllos, ekelhaft, umwunden
H. v. Kleist 1, 63. Schmidt (Schroff. 2, 3);
sterne zahllos,
entsteigen, selbst die finsternisz verklärend,
dem abgrund
Grabbe 2, 73 (D. Juan u. F. 2, 1);
er ist den zahllosen gefahren, die ihn bedroheten, glücklich entgangen Pfeffel pros. vers. 5, 1; seine projekte, geld zu erlangen, ... waren wirklich zahllos Bahrdt gesch. s. lebens 3, 168; so werde ich ... mich freuen, dasz ich auf ihr (der erde) ins harmonie-reiche chor zahlloser wesen getreten Herder 13, 15; die stimme des geschlechts theilt sich dem geschlecht, vornehmlich wenn es in gesellschaft, in heerden lebt, sympathetisch mit, wie die naturgeschichte es in zahllosen beispielen erweiset 22, 181; wollust durchglüht mich, wenn ich über euch zahllose helden hinblicke Klinger 3, 21; durchlaufe ich die vorarbeiten, die, ungenutzt und unausgeführt, in zahllosen blättern vor mir liegen Göthe 7, 154, 6. Weim.; kaum hatte ich etwas gelernt so verlangten sie von mir würdige männer in schlafröcken und weiten ärmeln und zahllosen falten 25, 93, 11; er (Du Bartas) lebte von 1544 bis 1590, war soldat und weltmann, und schrieb zahllose alexandriner 45, 173, 4; ein mächtiger springquell stieg zwischen den vielen fackeln mit zahllosen lichtern hinauf in die dunkelheit der tönenden wipfel Novalis 4, 92 Minor; nachdem die zahllosen gebrechen unsrer früheren bürgerlichen verfassung ... anerkannt waren Thibaut notwendigkeit ein. allg. bürgerl. rechts f. D. (div. abh. 1814) 411; ihre (der revolution) zahllosen ungerechtigkeiten ... empörten mein redliches herz K. L. v. Haller restaur. d. staatswiss. 1 (1816), VII; dasz eroberungen und vielfache vermischung die ursprünglich zahllosen stämme in einander schmelzen Niebuhr röm. gesch. 1, 15; in dessen (eines glashauses) wänden verbreiteten zahllose öfen wärme Kerner bilderb. (1849) 4; von gelehrten und frauen allerort strömen mir zahllose briefe zu Pückler 3, 171; das innere der kirchen füllte sich ... mit den zahllosen bilderchen an, welche ... die altäre bedeckten Ranke 1, 162; so lassen wir ihn denn einem durch zahllose widersprüche gestörten schlummer Holtei erzähl. schriften 2, 142; wovon er jetzt lebe, wusste so eigentlich niemand; noch weniger, wie er seiner zahllosen gläubiger sich erwehrte 8, 188; der aus minder feuchten gegenden einwandernde wird fast betäubt vom geschmetter der zahllosen singvögel Droste 2 (1879), 343; so fange ich heute schon an, ihnen zu schreiben, um durch alle interruptionen, durch zahllose stürme und quarantainen diesen brief doch sicher bis zum fünfzehnten in den hafen der poststube zu bringen briefe (1893) 119 (an L. Schücking); das tiefe meergrün des wassers und der schneeweisze, ewig bewegliche schaum, wo es die zahllosen klippen seines bettes rauschend überströmt, ... gewährt einen wahrhaft erhebenden anblick Moltke 1 (1892), 125; ich gebe dir volle freiheit, meiner frau so viele schöne dinge zu sagen, als je einer von deinen zahllosen liebschaften Bauernfeld 4, 32; von dem Engländer Wrigh von Durham nahm er die anschauung von der milchstrasse als einem in linsenform gruppirten system zahlloser fixsterne oder sonnen auf D. F. Strausz 6, 102; die verlegenheit, welche von den zahllosen da unter den tischen herum und unter einander liegenden beinen man an sich ziehen müsste Ludwig 2, 15; dasz die Italiker fast nicht minder als die provincialen sich der willkür eines jeden der zahllosen römischen beamten schutzlos preisgegeben sahen Mommsen röm. gesch. 2 (1881), 220; ich zielte nicht schlecht und der krug zerschellte an ihm (einem granitblock) in zahllose scherben und splitter Vischer auch einer 1, 115; so schweben noch unter uns ... fast zahllose schattengestalten aus dem hausglauben der deutschen urzeit Freytag 14, 51; eine matte dämmerung ..., die zwischen zahllosen spinngeweben aus einem dachfensterchen hereinfällt Storm 1 60; während das gebäude von auszen nur in weiszem, rötlichem und schwarzem marmor glänzte, waren die wände des innern mit zahllosen malereien bedeckt, welche die ganze geschichte und alle thätigkeiten des landes darstellten Keller 3, 113; das primitive büffet mit den eingeschnittenen querhölzern, daran zahllose weiszbierdeckel wie kleine schilde hingen Fontane 5, 93; der stolz, zahllose coupons allmonatlich abschneiden zu können, steht ihnen über aller arbeitsehre Riehl deutsche arbeit 21; tiefer redet es noch von der glorie der armuth in zahllosen alten sprüchen 119; an seinem ... gewand hingen zahllose vergoldete glaskugeln Ebner-Eschenbach 1, 106.
3)
seltener auszerhalb des unter 1) gekennzeichneten kreises neben singularen. so neben einer concreten collectivbezeichnung, bei deren gegenstande die einzelnen bestandtheile deutlich zu unterscheiden sind:
dich, der die erd' einst maas und zählte den zahllosen meersand,
dich beschränket anietzt, Archytas,
nah am Matinischen ufer ein häufchen staub
Herder 26, 240.
freier neben ausdrücken der beschaffenheit oder thätigkeit, in denen ein collectivischer sinn betont werden kann, auf mannigfaltigkeit oder häufigkeit gehend: findet nun schon das auge des zergliederers diese zahllose verschiedenheit (im innern bau des menschlichen körpers); welche gröszere musz in den unsichtbaren kräften einer so künstlichen organisation wohnen Herder 13, 253; es ist viel zu wenig, wenn man ihn (den menschen) dem saugenden schwamm, dem glimmenden zunder vergleicht; eine zahllose harmonie, ein lebendiges selbst ist er, auf welches die harmonie aller ihn umgebenden kräfte wirket ebenda; ich nahm den durch zahlloses falten und entfalten ganz zerschlissenen brief Ebner-Eschenbach 4, 238;
grosz, wie seines himmels pfade,
zahllos, wie der sterne heer,
ist des weltregierers gnade,
unergründlich wie das meer
Richter in R. Z. Beckers Mildheim. liederb. (1799).
ganz eigenartig: wir sollten einmal die masken abnehmen, wir sähen dann, wie in einem zimmer mit spiegeln, überɐll nur den einen uralten, zahllosen, unverwüstlichen schafskopf Büchner nachgel. schriften 143.
4)
in appositivem gebrauch, der zu adverbialer anwendung überleitet: gleichnisse häufen sich, diesz verwirrte getümmel darzustellen. erstens von zugvögeln, ... sodann von fliegen, welche zahllos die milchbutten umschwärmen Göthe 41², 270, 4 Weim.; und aus mittag und mitternacht zogen zahllos die gerippe heran E. T. A. Hoffmann 15, 57;
nach jenen schaaren hin,
die zahllos, wogen gleich, schon unsere stadt umzieh'n
Ayrenhoff 2, 8, 19;
zahllos, wie die blätter des walds, und der sand am gestade,
zieht es (das heer) im felde daher, ringsum die stadt zu bestreiten
Bürger 204 (Il. 2, 800);
es sprieszen die herrlichen bilder,
zahllos, wie blumen im lenz, vor der erinnerung hauch
Salis 81;
zahllos wehn der jugend stolze fahnen
Hölderlin 1, 126, 103;
heiter lachend
focht er gegen wilde rotten,
die ihn zahllos oft umzingelt
Heine 2, 133;
weint thränen man, weil floh das missgeschick?
ach ja, denn eines sohnes frommen blick
sah ich der liebe zeugen zahllos zieren
Droste 2, 250;
dunkler geist, und warst du gleich befangen,
da du deinen gott und herrn versucht:
ach, in deinen netzen zahllos hangen
sie, verloren an die tück'sche frucht
3, 31.
5)
adverbial:
wunderbar zweigen die nerven in zahllos verschlungenen gängen
Körner 2, 60;
dem stamm verderblich jener Semiramis
mit ihrem zahllos wimmelnden buhlerheer
Platen 1, 225.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 1 (1913), Bd. XV (1956), Sp. 61, Z. 49.

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Zitationshilfe
„zahllos“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/zahllos>.

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